Reportage
Als die Schweiz zur Weltspitze vorstiess
Von: Isabella Seemann
Geschichte: Ab Mitte 19. Jahrhundert entwickelte sich die Schweiz von einem Entwicklungsland zum Musterstaat für Wirtschaft und Verkehr und legte die Basis für ihren Erfolg bis heute. Wie das möglich war, zeigt der Zürcher Historiker Joseph Jung in seinem neuen Buch «Das Laboratorium des Fortschritts».
Als «cloaca magna von Europa», als Abwasserkanal, wurde die Schweiz 1843 wenig charmant beschrieben. Bis Mitte 19. Jahrhundert war sie über weite Strecken ein Armenhaus, rückständig, politisch tief gespalten, verwundet von einem Bürgerkrieg, institutionell instabil mit bewaffneten Aufständen auf dem Land, darüber hinaus militärisch und diplomatisch bedroht von umliegenden Mächten – und dem Untergang geweiht. Unglück, Not und Elend trieben Schweizer in die Flucht.
In Transport, Bildung und manchen Bereichen der Industrialisierung hatte das Land den Anschluss an die Entwicklung der modernen Staaten verloren. Während in Deutschland, Frankreich und Grossbritannien schon Tausende von Eisenbahnkilometern gebaut waren, eröffnete die Schweiz erst 1847 ihre erste Bahnlinie: die 23 Kilometer lange «Spanisch-Brötli-Bahn» von Zürich nach Baden. Hemmschuh für den Fortschritt war der damalige Staatenbund. Die Wende brachten erst die Radikal-Liberalen, die im Sonderbundskrieg die konservativen Kantone besiegten und so den Weg frei machten für die Annahme der Bundesverfassung und die Gründung des Bundesstaates im September 1848.
Es brauchte Pioniere
Nur 20 Jahre später schrieb ein bayerischer Gesandter: «Man kann gewiss sagen, dass die kleine Schweiz einer der grössten Industriestaaten der Welt ist.» Wie die Transformation nach 1848 innert kürzester Zeit möglich wurde, erzählt der Zürcher Historiker Joseph Jung auf den fast 700 Seiten seines neusten Werks «Das Laboratorium des Fortschritts». Denn für den fundamentalen Wandel brauchte es mehr als die Verfassung, die kluge Aufteilung von Kompetenzen zwischen Staat und Privatwirtschaft, die Weichenstellungen und Rahmenbedingungen. «Es brauchte Menschen, die Visionen verwirklichten, Projekte lancierten, Unternehmen gründeten und die Forschung vorantrieben», erklärt Joseph Jung. «Es brauchte Pioniere!» (siehe Interview).
Denn diese Pioniere überzogen das Land mit Schienen und Strassen, auf denen Güter und Rohstoffe transportiert und schliesslich exportiert werden konnten. Sie überwanden Täler und Flüsse mit Brücken, untertunnelten Berge und bauten Staudämme. Sie belieferten das Land mit innovativen Produkten, entwarfen kühne Pläne, nahmen Risiken auf sich und glaubten an ihre Idee. Der berühmteste Name der «Generation der 48er», die die Entwicklung der Schweiz im 19. Jahrhundert antrieb und dem Land Erfolgsgeschichten bescherte, ist gewiss Alfred Escher. Der liberale Politiker hat den Standort Zürich zu einem «machtpolitischen Zentrum» aufgebaut. Escher war an der Gründung und Entwicklung des Polytechnikums (heute ETH Zürich), der Kreditanstalt (Credit Suisse), der Rentenanstalt (Swiss Life) und der Rückversicherungsgesellschaft (Swiss Re) massgeblich beteiligt.
Mit Escher Wyss und der Maschinenfabrik Oerlikon in Zürich sowie mit Rieter und Sulzer in Winterthur entwickelte sich die Grossregion Zürich zu einem Zentrum der Maschinenindustrie. Allein im Kanton Zürich stieg die Zahl der in diesem Sektor Beschäftigten innert 50 Jahren von 69 559 (1860) auf 133 352 (1910). Die neuen Bedürfnisse schufen eine grosse Zahl wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Betätigungsfelder. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eroberten die drei Millionen Bewohner des rund 41 000 Quadratkilometer grossen Landes mit vielfach unwegsamem Gelände den Weltmarkt mit Maschinen, Käse, Schokolade, Finanz-Knowhow, Uhren, Textilien, Chemie- und Pharmaprodukten. Auch die «Hotellerie Suisse» erlebte einen fulminanten Aufstieg, der durch Hoteliers, Tourismuspromotoren, Politiker und Unternehmer angetrieben wurde.
Denn was heute als «Filz» verpönt ist, bezeichnet Jung gar als «Zauberformel im jungen Bundesstaat»: Hotelkönige, Unternehmer, Fabrikanten, Handelsherren und Grosskapitalisten übten massgebenden Einfluss auf wirtschaftliche und politische Strukturen aus. Der Wandel der Gesellschaft in der zweiten Jahrhunderthälfte war fundamental. Er zeigt sich im Bevölkerungswachstum, in der Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung sowie in der Ver- städterung. Er ist aber auch an vielen kleinen Zeichen ablesbar. Auf dem Gebiet der Tiefenhöfe beim Paradeplatz sollte ein Komplex von Geschäftshäusern entstehen. Diesem Bau musste am 25. März 1857 trotz riesigen Protesten der Bevölkerung und Presse auch die über 250-jährige Tiefenhoflinde weichen. Kein Sturm hatte diese Königin unter den Bäumen geknickt, schrieb die konservative «Freitagszeitung», «wohl aber musste sie der materiellen nur auf Geld und wieder Geld bedachten Richtung der Zeit zum Opfer fallen.»
Weitere Informationen: Joseph Jung: «Das Laboratorium des Fortschritts – Die Schweiz im 19. Jahrhundert», Verlag NZZ Libro, 2020, die zweite Auflage erschien soeben im Buchhandel.
Joseph Jung (65) ist Historiker und Publizist. Er verfasste Standardwerke zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Schweiz und lehrt heute als Gastprofessor an Hochschulen und Universitäten. Mit seinen Biographien über Alfred Escher und Lydia Welti-Escher wurde er mehrfach ausgezeichnet. Bereits wenige Wochen nach Erscheinen seines aktuellen Werks «Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahrhundert» (Verlag NZZ Libro) kommt die zweite Auflage in den Buchhandel. In diesem fast 700-seitigen Bestseller erzählt er die Erfolgsgeschichte der Schweiz, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm.
Sie erforschen die Schweiz des 19. Jahrhunderts. Warum sollte uns diese Zeit noch interessieren?
Joseph Jung: Damals beginnt zwischen Bodensee, Lago Maggiore und Lac Léman die Gegenwart. Viele Herausforderungen, denen sich die Schweiz im 21. Jahrhundert konfrontiert sieht, führen ins 19. Jahrhundert zurück.
Wie kamen die Schweizer überhaupt auf die Idee, sich auf den Weg zu machen?
Nicht alle Schweizer kamen auf diese Idee! Die Lage war ernst. Mitte des 19. Jahrhunderts musste die Frage beantwortet werden, was aus der Schweiz werden sollte. Wollte man weiterhin diese politisch verkrustete, wirtschaftlich gehemmte Schweiz, die den Anschluss an die Entwicklung moderner Staaten verpasst hatte? Oder eine neue, dynamische und auf die Zukunft gerichtete fortschrittliche Schweiz? Zunächst entschieden die Waffen. Doch bald schon wurden die Erfolge der Modernisierung offensichtlich.
Welche Faktoren waren entscheidend, dass die Schweiz vom bäuerlichen Kleinstaat zur Wirtschaftsmacht werden konnte?
Ideale staatliche Rahmenbedingungen, eine kluge Aufteilung der Machtverhältnisse zwischen Bund und Kantonen mit letzteren im Führersitz, eine gehörige Portion Wirtschaftsliberalismus und eine heute unglaublich anmutende Wirkmächtigkeit unterschiedlichster Pioniere. Voilà! Und ganz entscheidend: die Eisenbahn als Lokomotive des Fortschritts.
Wenn man Ihre neue Geschichte des schweizerischen 19. Jahrhunderts liest, dann ist man ergriffen von diesem gewaltigen Wandel in hundert Jahren. Sie waren ja schon vorher ein hervorragender Kenner dieser Zeit. Was hat Sie beim Schreiben, bei der Recherche wirklich noch erstaunt?
Die bedeutende Rolle, die zwei Berufsgruppen für die Modernisierung der Schweiz gespielt haben. Nehmen wir zunächst die Hoteliers. Diese waren Unternehmer. Sie führten nicht nur Gasthäuser, sondern hatten vielfältige Visionen. Sie bauten Strassen, Wanderwege, Sportplätze, Kulturhäuser und Kasinos, sie errichteten Elektrizitätswerke, führten die Telegraphie in ihren Dörfern ein, betrieben Schifffahrtsgesellschaften und Bergbahnen. Die andere Berufsgruppe waren die Ingenieure. Ohne Ingenieure gibt es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen Neubau Schweiz!
Ohne Zürich wäre dieser Auf- und Umbruch im 19. Jahrhundert nicht möglich gewesen. Was meinen Sie dazu?
Zürich war Dreh- und Angelpunkt: Das wirtschaftliche und politische Kraftzentrum der Schweiz und mit ETH und Universität auch der führende Forschungsplatz. Doch korrekterweise müssen wir vom Grossraum Zürich sprechen. Doch das Herz schlug damals in der Stadt Zürich, ein Industriestandort erster Güte, man glaubt es kaum.
Und heute? Erkennen Sie in Zürich noch irgendwo eine solche Aufbruchstimmung wie damals?
Natürlich nicht. Eine Aufbruchstimmung wie in den 1850 / 60er Jahren gibt es nirgendwo mehr in der Schweiz. Und so wünscht man sich den Geist des Fortschritts zurück. Möge er doch wieder einmal kräftig durch Ratssäle und Chefetagen wehen.
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