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Reportage

Über 300 Feuerwehrleute waren am 8. März 1994 im Einsatz, um gegen das Inferno anzukämpfen. Bild: Keystone

Apokalypse in Zürich-Affoltern

Von: Jan Strobel

05. März 2019

Am Morgen des 8. März 1994 entgleiste im Bahnhof Affoltern ein mit Benzin beladener Zug und verwandelte das Gebiet in ein Flammenmeer. 23 Menschen verloren ihr Hab und Gut, es gab drei Schwerverletzte. Eine direkte Anwohnerin erinnert sich an dieses Unglück vor 25 Jahren.

Es ist ein Idyll, wie es in Zürich-Affoltern eigentlich nur noch selten zu finden ist. Ein reizendes Häuschen, umgeben von einem grosszügigen Garten. Bald werden die Blumen wieder spriessen, die Bäume blühen. Ein Hund sonnt sich zwischen Beeten, und auch die Vögel beginnen wieder zu singen. In Affoltern kündigt sich der Frühling an wie an jenem Morgen vor 25 Jahren, als die Feuerhölle  nur wenige Meter entfernt von hier losbrach, drüben, wo heute der Bahnhof steht. 

Am Gartentisch sitzt Margrit Ehrbar, die diesen 8. März 1994 in ihrer Erinnerung wiederaufleben lässt. In der Zeitung möchte sie lieber ohne Foto erscheinen. «Für die Jungen und die Zugezogenen im Quartier ist das, was hier damals geschah, kein Thema mehr», sagt sie. Dabei hinterliess der Vorfall seine Spuren  noch Jahrzehnte später, auch wenn die sichtbaren Narben nach einem Vierteljahrhundert längst verschwunden sind. Aber der Boden in diesem Teil von Affoltern musste bis vor kurzem immer noch regelmässig auf Benzinrückstände überprüft werden. 


Am frühen Morgen des 8. März hatte ein Zug aus 20 Zisternenwagen mit je 80 000 Liter Benzin den Auhafen von Birsfelden verlassen. Sein Ziel war Häggenschwil im Kanton St. Gallen, wo sich ein riesiges Tanklager  befindet. Fünf Kilometer vor dem Bahnhof Zürich-Affoltern verlor die hinterste Achse des siebten Wagens das Radsatzlager, was zur Entgleisung führte. Dennoch fuhr der Zug mit einer Geschwindigkeit von 70 Kilometern pro Stunde Richtung Bahnhof weiter. Zu diesem Zeitpunkt, es war gegen 8 Uhr früh, bereitete Margrit Ehrbar in der Küche gerade das Frühstück für sich und ihren Sohn zu. Ihr Ehemann Willi leistete als Hauptmann bei der Feuerwehr an diesem Tag Pikettdienst. 

«Sie, der Bahnhof brennt!»
Beim Bahnübergang Zehntenhausstrasse setzte derweil eine Kette von Ereignissen ein, welche zur Feuerkatastrophe führen sollte. Der entgleiste Wagen brach aus und fiel auf einen Mast der Übertragungsleitung. Dabei schlug er leck, überschlug sich und durchbrach die Betonmauer zwischen den Gleisen und den angrenzenden Häusern. Mehrere weitere Benzinwagen entgleisten und kippten zum Teil zur Seite, während andere stehen blieben. Durch das Leck in Wagen 7 floss  Benzin aus, das sich sofort entzündete. Bis heute ist nicht klar, was diese Zündung verursachte. Als Möglichkeit wurden die Kurzschlussfunken der Fahrleitung oder Funkenbildung durch die schleifenden Wagen in Betracht gezogen. Margrit Ehrbar in ihrer Küche hörte einen Knall, «und dann sah ich plötzlich diese Rauchsäule. Ich kam zuerst gar nicht auf den Gedanken, dass da ein Zug in Flammen stehen könnte. Ich dachte, da brennt ein Auto», erzählt sie. Bis sie die Hitze wahrnahm, die sich plötzlich ausbreitete, begleitet von einem unheimlichen Pfeifen. Das Benzin floss mittlerweile in die Kanalisation, die Häuser, die direkt am Bahngleis lagen, fingen Feuer. Bei der Einsatzzentrale der Berufsfeuerwehr Zürich gingen um 8.10 Uhr die ersten Notrufe ein. «Sie, der Bahnhof Affoltern brennt! Nein, vor dem Bahnhof, ziemlich heftig!», «Sie, ein Riesenbrand im Bahnhof Affoltern!» Auch Margrit Ehrbar rief die Feuerwehr an und dachte dabei an ihren Mann, der jetzt zweifellos ausrückte. 

In der Kanalisation kam es zu mehreren Explosionen, die Kanaldeckel flogen wie Geschosse in die Höhe. Immer wieder folgten weitere Detonationen, Trümmerteile wurden bis zu 200 Meter weit geschleudert und trafen eine Reiterin, die gerade beim Regenklärbecken am Katzenbach unterwegs war. Sie wurde so schwer verletzt, dass ein Unterschenkel amputiert werden musste. Inzwischen waren über 300 Feuerwehrleute im Einsatz, die verzweifelt versuchten, des Infernos Herr zu werden, die Kanalisationsschächte zu sichern und die nicht brennenden Wagen zu kühlen. Unbeschädigte Wagen konnten aus dem Gefahrengebiet weggezogen werden. Auch Margrit Ehrbars Mann stand bis zur Erschöpfung im Einsatz, sein eigenes Haus in Sichtweite. 

«Die Hitze», sagt Margrit Ehrbar, «stieg immer weiter an. Ich nahm meinen Gartenschlauch und begann, die Umgebung des Hauses zu bewässern. Ich hatte Angst, dass die Feuerwalze auch mein Grundstück erreicht. Das Auto stand bereit im Fall einer Flucht.»

In der Nachbarschaft frass sich das Feuer bereits durch die vier Häuser, welche direkt am Bahndamm lagen und wo Wagen 7 mit seinem Leck umgekippt war. Die Familie Ehrbar war mit einigen der Bewohner bekannt, mit den Meiers etwa oder dem Dölf. «Ich sah, wie sie versuchten, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen, also rannte ich mit meinem Sohn zu den Meiers hin, um zu helfen. Die Grossmutter wollte ihre Katze im ersten Stock retten, aber wir packten sie und hielten sie im letzten Moment zurück, wir mussten sie regelrecht aus ihrem Haus schleifen.» 

Um die apokalyptische Szenerie einzufangen, flog die Presse mit einem Helikopter über das Gebiet, dabei kam es beinahe zu einer Kollision mit einem Rega-Helikopter, der vom Migros-Parkdeck aus gestartet war, um nach Verletzten Ausschau zu halten. Ein Schulhaus in der Nähe wurde währenddessen evakuiert, ebenso ein Alterszentrum. Als Notunterkunft diente das Hotel Kronenhof an der Wehntalerstrasse. Als die Lage während des Nachmittags unter Kontrolle war, versammelten sich im Haus von Margrit Ehrbar die Versehrten der Nachbarschaft. Das Unglück von Zürich-Affoltern hatte den Zusammenhalt im Quartier noch einmal mobilisiert. Den Feuerwehrleuten drückte später auch Bundesrat Adolf Ogi mit einem Brief seinen Dank und seine Anerkennung aus. 

Die Häuser direkt am Gleis, zwischen Zehntenhausstrasse und Im Grund, brannten vollständig aus. Bild: Privat

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