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Reportage

«Let Europe arise!»: Der Besuch des britischen Kriegshelden und Staatsmanns Winston Churchill 1946 versetzte die Zürcher in Begeisterung. Bild: André Melchior, Privatarchiv

Churchills Zürcher Triumphzug

Von: Isabella Seemann

13. September 2016

Im September vor 70 Jahren war ganz Zürich aus dem Häuschen: Der britische Staatsmann besuchte die Limmatstadt für drei Tage und hielt eine weltbedeutende Rede.

Als sich 1946 der Pulver- und Blutdampf, der so lange über dem europäischen Kontinent gelegen hatte, verzog und es sich herumsprach, dass der britische Kriegsheld den Spätsommer in der Schweiz verbringen würde, brachen die Eidgenossen in ein regelrechtes Churchill-Fieber aus. Nach seinen Mal­ferien am Genfersee reiste Sir Winston Churchill am Mittwoch, dem 18. September 1946, begleitet von seiner Tochter Mary und seinem Freund und Mallehrer Charles Montag mit dem Roten Pfeil der SBB nach Zürich, wo es um 17.57 Uhr in der Enge einen grossen Bahnhof für ihn gab. Nach einer kurzen Begrüssung fuhr der Gast ins Grand-Hotel Dolder, wo er im ersten Stock eine ganze Zimmerflucht reserviert hatte.

Während des Abendessens packte den grossen Weltbeweger das Lampenfieber vor seinem bevorstehenden Auftritt an der Universität Zürich. Churchill las seinen Freunden die Rede vor, die er während der Ferien vorbereitet hatte und die später als die «Zürcher Rede» in die Geschichte eingehen sollte. Nachdem sich die Tischrunde um 1 Uhr aufgelöst hatte, feilte er noch bis zum Morgengrauen daran und verschlief prompt.

Jubelrufe, Fähnchen, Applaus
Schulkinder, die an jenem Donnerstag alle freibekamen, hatten lange vor seiner Abfahrt vom Dolder die Kurhausstrasse umsäumt. Hotelgäste standen im Pyjama an den Fenstern, ältere Leute sassen auf mitgebrachten Stühlen, junge Männer kletterten auf Leitern und Bäume. Als um 9.45 Uhr Churchill mit Hut und schwarzem Mantel erschien und das Victory-Zeichen machte, kannte der Freudentaumel der Wartenden kein Halten mehr. Von der Kirche Fluntern bis zur Rämistrasse standen die Leute in mehreren Reihen Spalier. Überall Jubelrufe, Fähnchen, Applaus. Churchill wurde in seiner offenen Limousine mit Blumen buchstäblich eingedeckt. Mit Verspätung konnte Regierungsratspräsident Hans Streuli den britischen Staatsmann kurz im Rathaus begrüssen, bevor der Triumphzug schliesslich zur Universität hinauf ging.

Nie zuvor und nie danach wurde ein Politiker in der Schweiz so gefeiert. Niemand wollte die Gelegenheit zum Danken verpassen. «Die Zürcher hatten die düsteren Tage, als die Eidgenossenschaft von den Achsenmächten eingekreist war und Churchill der Bevölkerung mit seiner Entschlossenheit und den militärischen Leistungen Mut gemacht und Hoffnung gegeben hatte, nicht vergessen», erklärt Werner Vogt die Stimmung der damaligen Zeit. Der Historiker und Autor des Buches «Winston Churchill und die Schweiz» forscht seit seiner Promovierung über den Politiker, den er neben Nelson Mandela als bedeutendsten Staatsmann des 20. Jahrhunderts betrachtet.
Auf dem Münsterhof, mit einer gepunkteten Fliege geschmückt, wie sie auch Churchill stets trug, führt Werner Vogt aus, weshalb Churchill seine Malferien in der Romandie überhaupt mit einem Aufenthalt in Zürich verknüpfte.

Charles Montag, Organisator der Reise, und einige Wirtschaftsführer gelangten an die Universität mit dem Vorschlag, Churchill die Ehrendoktorwürde zu überreichen. Dies lehnte die Uni kleinmütig ab, weil sie die neutrale Schweiz, die sich zaghaft der Sowjetunion annäherte, nicht gefährden und es mit den «braunen Professoren», die auf der Seite Deutschlands gestanden hatten, nicht verscherzen wollte. «Churchill war enttäuscht und verlor zunächst jedes Interesse, nach ­Zürich zu fahren», erklärt Vogt. «Gleichwohl war er nicht nachtragend. In den Sommer­ferien kam ihm die Idee, eine programmatische Rede zu Europa zu halten, und so wurde Zürich wieder interessant.» Der Termin wurde auf den 19. September 1946 festgesetzt. Wiewohl Churchill die Ansprache an die akademische Jugend richtete, galt sie der ganzen Welt und wurde von Radio Beromünster ins Ausland ausgestrahlt.

Ein paar Sätze aus dem Stegreif
Auf dem Weg zur Universität begann es zu regnen. Gegen 11.15 Uhr begab sich Churchill zur Aula, wo er seine visionäre 17-minütige Rede hielt, in der er zur deutsch-französischen Versöhnung und zur Einheit Europas aufrief: «Let Europe arise!»

Dann fuhr er in der offenen Limousine entlang Zehntausender jubelnder und Blumen werfender Zürcher von der Universität über die Rämistrasse, Bellevue, Bürkliplatz, Bahnhofstrasse, Bahnhofplatz, Bahnhofbrücke, Limmatquai, Münsterbrücke bis zum Münsterplatz, wo ihn eine riesige Menschenmenge erwartete. Churchill, der vergessen hatte, dass er auch hier sprechen sollte, sagte aus dem Stegreif ein paar Sätze, steckte seinen Hut auf den Stock und schwenkte ihn hin und her. Darauf ging es endlich zum späten Mittag­essen ins Zunfthaus zur Meisen, die Pausen zwischen den Gängen verkürzte er sich mit Nickerchen. «Der Ego-Wettstreit unter den organisierenden Stellen und Fehlkoordinationen führten zu einem hoffnungslos überladenen Programm für den 72-jährigen Churchill», fasst Werner Vogt das eitle Gewese von Zürcher Behörden, Politikern, Wirtschaftsführern und Künstlern schmunzelnd zusammen.

Am Abend fand auf dem Landgut Schipf in Herrliberg ein Bankett mit Wissenschaftlern statt, an dem auf Wunsch von Tochter Mary auch der Psychoanalytiker C. G. Jung teilnahm. Der herbe Wein missfiel Churchill, der Champagner, Port und Whisky vorzog.

Am Freitagmorgen kündigte Churchill an, er werde seinen Abflug von Dübendorf extra um eine Stunde verschieben, um seinen Farbenlieferanten zu treffen, den er bereits beim Apéro am Abend zuvor kennen gelernt hatte. Churchill, ein leidenschaftlicher Maler, schwörte auf die Farben des Farbenfabrikanten Willy Sax. Für seine Landschaftsmalereien brauchte er viel Blau. Ein bestimmtes Blau.

Mit Polizeieskorte fuhr Churchill vor die Papeterie der Gebrüder Scholl an der Poststrasse 3 bei der Fraumünsterpost, wo sich heute die Gucci-Boutique befindet. Sax zeigte seine Farben, seine Paletten, seine Pinsel. Am Ende liess Churchill sich Malzeug im Wert von 150 Franken einpacken und bestand darauf, cash zu bezahlen. Drei Wochen später traf ein Päckchen auf dem Landsitz Chartwell ein. Es enthielt Tuben mit «Churchill-Blau», einem Königsblau, das Sax extra mischen liess.

Mit einem letzten Lüften des Hutes und einem letzten V-Zeichen verabschiedete sich Churchill am Flughafen Dübendorf von den Zürchern und flog zur Mittagsstunde ab. Im Dankesbrief an seinen Freund Charles Montag schrieb er: «I was greatly touched at my reception by the Swiss people everywhere, and the welcome given me in your native city of Zurich will long remain in my mind.»



Werner Vogt: «Winston Churchill und die Schweiz», Verlag NZZ Libro, 48 Fr.

Info:
Freitag, 23. September, 17.30 Uhr im Kaufleuten: Podiumsgespräch «Churchills Vision und die europäische Gegenwart» mit Alfred Gusenbauer, österreichischer Bundeskanzler a. D., Theo Waigel, ehemaliger deutscher Finanzminister, Ständerat Filippo Lombardi, Prof. Sarah Springman, Rektorin ETH Zürich, Peter Kurer, VR-Präsident Sunrise, Stadtrat Filippo Leutenegger. Begrüssung: Regierungsrätin Silvia Steiner und Stadtpräsidentin Corine Mauch.
Um 20.30 Uhr auf dem Münsterhof: Foto-Light-Show «Winston Churchill in Zürich» des Lichtkünstlers Gerry Hofstetter. Begrüssung: Regierungspräsident Mario Fehr. Die Lightshow wird am Freitag um 21.30 Uhr und am Samstag um 20.30 und 21.30 Uhr wiederholt. Weitere Infos:

www.churchill-in-zurich.ch

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