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Reportage

Positive Energie im Altersheim: Oft gibt es viel zu lachen, auch wenn die Arbeit nicht immer leicht ist und der Körper manchmal streikt: Von links: Douglas Smith, Leiter Alterszentrum Sydefädeli; Jelena Vladusic (Pflegefachfrau); «Tagblatt»-Redaktorin Ginger Hebel; Nada Petkovic (Leiterin Cafeteria); Noemie Huber, Assistentin Leitung Alterszentrum; und vorne im Bild Bewohnerin Lou Buschor. Bild: Nicolas Y. Aebi

Daheim im Altersheim

Von: Ginger Hebel

28. Juni 2019

Am Puls: In der Stadt Zürich sind aktuell rund 2000 Menschen in einem der 23 städtischen Alterszentren untergebracht. Im Sydefädeli in Wipkingen leben 91 Bewohnerinnen und Bewohner. «Tagblatt»-Redaktorin Ginger Hebel war für die Serie Am Puls mittendrin im Reich der Betagten.

Die Kamera blitzt, und alle sind da. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Alterszentrums Sydefädeli kommen neugierig aus ihren Zimmern und aus der Cafeteria. Sie wollen nicht verpassen, was in ihrem Daheim vor sich geht. Bewohnerin Lou Buschor (85) ist für das Foto im «Tagblatt» an vorderster Front – und top gelaunt. Die gebürtige Deutsche lebt seit den Sechzigerjahren in Zürich und seit zweieinhalb Jahren im Sydefädeli. Zum Quartier Wipkingen hat sie einen starken Bezug, 30 Jahre lang wohnte sie nur wenige hundert Meter entfernt. Ihr Zimmer mit eigener Nasszelle und Balkon hat sie wohnlich eingerichtet, mit ihrem geliebten Louis-Quinze-Sekretär und Bildern aus ihrer Zeit als Fotomodel. «Für Werbekampagnen flogen wir damals sogar nach Nizza», erzählt sie stolz.

In der Cafeteria bestellt sie sich einen Café Creme. Sie ist adrett gekleidet, auffallende Ohrringe und Ketten mit Schmucksteinen, bunte Kleider. «Im Sommer trage ich jeden Tag einen anderen Hut auf der Terrasse, ich bin oft ziemlich overdressed, aber das macht mir nichts aus», sagt sie und lacht. Die Mode bedeutet ihr noch immer viel. Als ihre Ehe nach zwanzig Jahren in die Brüche ging, übernahm sie die Secondhand-Boutique Kleiderkasten im Kreis 5. «Das war mein Sprung aus der Abhängigkeit», resümiert sie. Heiraten, so etwas würde sie rückblickend nie mehr tun. «Frauen aus meiner Generation leiden unter verpassten Chancen. Wir hatten doch früher nichts zu sagen, der Mann bestimmte alles. Wir waren die Dienenden. Wenn ich ein paar Schuhe haben wollte, musste ich dafür betteln.»

Als sie nicht mehr Hausfrau sondern Geschäftsfrau war, änderte sich alles. «Ich blühte regelrecht auf.» Eine feste Bindung sei sie nie mehr eingegangen. «Ich habe mein Leben genossen, auch die Männer, ich hatte viele One-Night-Stands, in meinem Alter darf ich das zugeben.»

Nada Petkovic (50) kennt die Lebensgeschichten der Bewohnerinnen und Bewohner. Sie arbeitet seit 20 Jahren in der Cafeteria und nimmt sich gerne Zeit für ein Schwätzchen. Als sie als Dreissigjährige hier begonnen hat, sei ihr Draht zu den betagten Menschen noch nicht so gut gewesen wie heute. «Ich war noch jung, und habe mich mit dem Alter gar nicht gross beschäftigt. Heute setze ich mich intensiver damit auseinander.» Sie mag ihren Beruf, weil er sie mit Menschen zusammenbringt. Bei Kaffee und Kuchen reden sie über gesundheitliche Probleme und die alten Zeiten. «Das grösste Gesprächsthema sind immer die Kinder», sagt Nada Petkovic. Manche Bewohner seien enttäuscht darüber, dass die Töchter und Söhne nicht so häufig zu Besuch kommen, wie sie es erwarten würden, andere hingegen seien einfach nur glücklich, wenn überhaupt jemand vorbeischaue.

91 Bewohnerinnen und Bewohner leben aktuell im Sydefädeli. In der Stadt Zürich sind rund 2000 Menschen in einem der 23 städtischen Alterszentren untergebracht. Douglas Smith leitet das Alterszentrum Sydefädeli seit vergangenem September, kann aber auf eine 20-jährige Karriere im Alterswesen zurückblicken. «20 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer leben im Alters- und Pflegeheim. Der Wunsch der Menschen ist es heute, so lange wie möglich zu Hause selbstbestimmt zu leben.» Das Durchschnittsalter der Sydefädeli-Bewohner liegt bei 87 Jahren. «Würde bis zum letzten Atemzug, das ist, meiner Meinung nach, das Allerwichtigste.»

Jelena Vladusic betreut die Bewohnerinnen und Bewohner. Stützstrümpfe anziehen, waschen, Arzt-Termine abmachen, «man braucht viel Energie, es ist oft sehr streng, aber ein Lächeln hilft immer», sagt die 40-Jährige. Schon als kleines Mädchen habe sie den Krankenschwestern nachgeeifert. Seit 16 Jahren arbeitet sie nun schon im Sydefädeli, viele Bewohnerinnen und Bewohner kennt sie seit Jahren. «Alte Menschen sind nicht mehr so flexibel. Sie gewöhnen sich an jemanden, darum finde ich es wichtig, dass man in der Alterspflege nicht zu oft den Job wechselt, da sonst gar kein Vertrauen entstehen kann.» Das Ziel sei es, dass die Bewohner ihre Eigenständigkeit bewahren können, so lange es geht. «Wir unterstützen sie dabei.»

Das Unterhaltungsangebot im Sydefädeli ist gross. Yoga, Turnen, Gedächtnistraining. Bei den Bewohnerinnen steht der Barfuss-Kneippgarten hoch im Kurs. Auch auf das Essen freuen sie sich täglich aufs Neue. «Man darf zwischen vier Menüs auswählen, da findet jeder etwas, das ihm schmeckt. Und sonst gibts auch immer ein kaltes Plättchen», sagt Lou Buschor. Seit sie hier wohne, habe sie stark zugenommen. Sie weiss, was es bedeutet, wenn man hungern muss. Noch immer hat sie die Bilder des Deutschen Kriegs im Kopf, wie sie mit ihren Geschwistern das Geländer im Treppenhaus runterrutschte und sich im Keller versteckte, als die Bomben fielen; wie ihre Mutter glücklich war, als sie ihren Kindern abends einen Kohlkopf und Ziegenmilch hinstellen konnte. «Heute lebe ich hier wie im 4-Sterne-Hotel. Für den fünften Stern fehlt ein Spa», sagt Lou Buschor und lächelt. Sie engagiert sich im Bewohnerrat und hat ihr Anliegen bereits geäussert. Früher hatte sie immer das Thermalbad Zurzach besucht, «diese warmen Bäder taten mir gut, das vermisse ich sehr.»

Douglas Smith weiss von ihrem Wunsch. «Die Frage ist immer, wollen das die anderen Bewohnerinnen und Bewohner auch? Es gilt abzuwägen, da solche Investitionen teuer sind», betont er. Aktuell erarbeitet die Stadt Zürich eine neue Altersstrategie, abgestützt auf die künftigen Bedürfnisse der älteren Bevölkerung. «Bald kommen die Babyboomer ins Alter. Sie haben andere Bedürfnisse als die Kriegsgeneration», sagt Douglas Smith.

Die Stadt versucht mit einer gross angelegten Umfrage, herauszufinden, wie die Zürcher Bevölkerung im Alter leben möchte. Sie ist eingeladen, ihre Vorstellungen und Ideen einzubringen. Bis zum 19. Juli kann jeder online die Meinung sagen. Die Beiträge werden von der Stadt ausgewertet und fliessen in die Erarbeitung der neuen Altersstrategie mit ein.

Weitere Informationen: www.mein-zuerich-im-alter.ch

Wie ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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