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Reportage

Die Büchnerstrasse – eine ruhige Wohnlage am Zürichberg. Bild: H. Wehrli

Das kurze Glück des Verfolgten

Von: Urs Hardegger

08. Februar 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Büchnerstrasse.

«Ich bin ein armer Teufel – und hab sonst nichts auf der Welt», klagt Woyzeck im gleichnamigen Theaterstück, das Georg Büchner (1813–1837) in Zürich fertigstellen wollte. Ganz so prekär war seine Lage nicht, als er im Oktober 1836 in Zürich eintraf, obwohl man ihn in Deutschland wegen Hochverrats steckbrieflich suchte und er auch im französischen Strassburg nicht mehr erwünscht war. Mit seinem Pamphlet «Friede den Hütten! Krieg den Palästen» hatte er im Grossherzogtum Hessen die Bauern und Handwerker aufgefordert, sich gegen die hohen Abgaben und Steuern zur Wehr zu setzen. Radikal wie kaum einer zuvor prangerte er die Raubgier der Fürsten und die Unterdrückung des Volkes an und brachte damit die Machthaber gegen sich auf.

Einflussreiche Leute setzten sich in Zürich für den Dichter ein, und die liberale Zürcher Regierung gewährte ihm grosszügig Asyl. Im Kampf gegen die Konservativen, die ihre Niederlage von 1830 noch nicht verdaut hatten, freute man sich über jeden republikanisch gesinnten Verbündeten.

Luxus- statt Arbeiterklasse

«Seine» kurze Strasse führt oberhalb von Rigi- und Spyriplatz durch das Zürichberg-Quartier. Die markanten Häuser erinnern eher an die Paläste der Vornehmen als an die Hütten der «armen Würmer», für die Büchner sich einsetzte. Klassizistische Fassaden, Erker und Giebel strahlen Noblesse aus, vornehme Hauseingänge imponieren mit alten Türblättern. In Bezug auf die Wohnform setzt das Wogeno-Haus in Nummer 9 einen Kontrapunkt. Im Geiste der 1980er-Bewegung wird hier noch selbstverwaltetes Wohnen praktiziert.

Büchner, der Medizin studiert hatte, fand an der Spiegelgasse Unterkunft und an der Universität eine Anstellung als Dozent für Vergleichende Anatomie. Die junge Zürcher Universität empfing die vertriebenen Wissenschaftler aus Deutschland mit offenen Armen. «Ich sitze am Tag mit dem Skalpell und die Nacht mit den Büchern», notierte der Schriftsteller, der jede freie Minute verwendete, um am «Woyzeck» zu arbeiten. Am Beispiel des einfachen Soldaten Franz Woyzeck wollte er zeigen, was passiert, wenn Menschen als Spielball der Mächtigen ausgenutzt und gedemütigt werden. Darf Woyzeck, der seine Geliebte Marie ersticht, weil er Stimmen gehört hat, als Mörder zum Tod verurteilt werden? Ist er nicht als Opfer der Umstände zu betrachten? – Es sind die feudalen Verhältnisse, welche die Ungebildeten in den Wahnsinn treiben, denn durch gleiche Umstände würden «wohl alle gleich werden», schrieb Büchner in einem Brief an die Familie. Das Drama ist ein Fragment geblieben. Trotzdem wird es wie auch «Dantons Tod», sein anderes Drama, noch immer häufig aufgeführt.

An Typhus gestorben

Büchner fühlte sich wohl in Zürich. Die Atmosphäre der Limmatstadt unterscheide sich wohltuend vom deutschen Feudalstaat. Doch ihm blieb wenig Zeit, sich hier einzuleben. Bereits drei Monate nach seiner Ankunft erkrankte Büchner an Typhus. Alle ärztlichen Bemühungen blieben erfolglos. Er verstarb «schmerzlos und sanft» mit nur 23 Jahren. An seinem Grab fanden sich Emigranten, Honoratioren der Universität und Vertreter der Regierung ein, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

«Ein unvollend Lied sinkt er ins Grab – Der Verse schönsten nimmt er mit hinab», ruft ihm ­Georg Herwegh auf dem Gedenkstein nach, der an der Germaniastrasse bei der Seilbahnstation Rigiblick zur Erinnerung errichtet wurde. In der Tat, nicht nur «Woyzeck», auch Büchners Leben ist unvollendet geblieben.

Quellen:
Georg Büchner: Woyzeck. Stuttgart 2002.
Peter Müller: Zwischen Fischschwänzen und Froschzehen,
in: Martin Ebel: Nackt gebadet, gejauchzt bis zwölf. München 2007.

Lesen Sie am 9. März den Beitrag zur Neubühlstrasse.

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