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Reportage

Im Schritttempo ans Kachränzli, und doch starb die alte Dame auf dem Velo. Bild: PD

Der Gerichtsfall

Von: Isabella Seemann

06. März 2013

Der Tod der alten Dame

«Ich habe die alte Dame erst gesehen, als sie durch die Luft flog», sagte Zeugin zwei, die mit dem Rollator an der Kreuzung stand. Die Dame war 73 Jahre alt, als sie an einem Nachmittag im Juni 2010 mit dem Fahrrad die Quartierstrasse hinunterfuhr Richtung Altersheim, wo sie ihre 98-jährige Mutter besuchen und einen Jass klopfen wollte. Dort kam sie nie an. Auf der Kreuzung wurde sie von einem Auto erfasst und in die Luft geschleudert. Man hat versucht, sie zu retten, doch am Abend des gleichen Tages war die alte Dame tot. Ihr Tod spielt keine Rolle vor Gericht, ihr Leben schon gar nicht. Woher sie kam, ist nicht relevant. Ob sie Mann und Kinder hatte, die später um sie trauerten, interessiert nicht. Ob sie taub war oder sehschwach, geistig verwirrt oder lebensmüde, gehört nicht zur Sache. Das letzte Mal brachten die ermittelnden Polizisten ihrer Leiche Interesse entgegen, als sie vom Obduktionsbefund Aufschluss darüber verlangten, was den Tod verursacht hatte. Es war kein Herzinfarkt oder Schlaganfall; schuld war der Zusammenprall mit dem Auto, der Flug durch die Luft, die Kopfverletzung, als die alte Dame auf das Pflaster aufschlug. Das Auto war ein Renault. Eine Frau fuhr ihn, quasi im Schritttempo, sie war auf dem Weg zum Kafichränzli. Sie war zu Hause in ihr Auto gestiegen wie Tausende andere Zürcher auch. Mit allen möglichen Gedanken vielleicht, nur nicht mit dem, dass das Fortbewegungsmittel zum Tötungsinstrument werden kann, wenn der Zufall es will. Der Zufall wollte es, dass Frau Johanna P.* in die Quartierstrasse abbiegen wollte, als die alte Dame die Kreuzung überquerte, ohne sich um die Vortrittsberechtigung des Autos zu scheren. Gleichwohl hatte das Bezirksgericht die Autofahrerin wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Diese Schuld will Frau Johanna P. nicht auf sich nehmen und ficht das erstinstanzliche Urteil an. In der Lobby des Obergerichts ist eine Erscheinung wie jene von Johanna P. so selten wie ein weisser Rabe. In der Regel ist der Ort bevölkert von jungen Burschen in den Kapuzenpullis und Trainerhosen, mit denen sie auch zu Hause vor der Glotze rumlümmeln.

Toupiertes Haar, makelloses Make-up
Doch Johanna P. weiss als einstige Unternehmersgattin um die Bedeutung eines guten ersten Eindrucks und welche Signale die Kleidung, Frisur und Körpersprache aussenden. Ihr schlohweisses Haar ist kunstvoll toupiert, das Make-up makellos aufgetragen, ohne Angst, ihr Alter könnte den Pastellfarben widersprechen, das Foulard ist schwungvoll um den Hals geworfen. Johanna P. ist 84 Jahre alt, was man ihr nicht ansieht, und sie ist ein bisschen schwerhörig und auf dem linken Auge blind, was man ihr nicht anmerkt. Sie hat ein klares, helles Gesicht. Eine verlässliche Erscheinung. Wie sie die Zeit zwischen Unfall und Prozess überstand, will das Gericht nicht wissen. Tatsächlich muss Frau P. den Eindruck haben, dass es hier nicht um ihre Person geht, sondern um Meter und Sekunden. Man beugt sich über die Unfallskizze. Wie ist die alte Dame denn zu liegen gekommen? «Die Dame lag hier irgendwo.» Wie schnell ist denn die Frau in die Pedale getreten? Konnte Frau P. die alte Dame rechtzeitig sehen? Frau P. berichtet, die alte Dame habe den Kopf gesenkt gehalten wie in Gedanken, einen Helm habe sie auch nicht getragen. Haben Büsche die Sicht gestört? «Ja, Büsche und ein falsch parkierter Wagen, und plötzlich war sie unter meinem Auto.» Sie hätte nie gedacht, dass die Dame einfach geradeaus in die Kreuzung fahren würde. «Es tut mir schrecklich leid, ich nage heute noch daran, die Bilder holen mich immer wieder ein. Aber meiner Ansicht nach bin ich nicht schuld.» Der Richter will wissen, ob sie wegen des kaputten Auges die Situation nicht erfasst habe. Nein, der Arzt habe sie regelmässig auf ihre Fahrtauglichkeit überprüft, mehr als 40 Jahre lang sei sie unfallfrei gefahren, sagt sie, und sie habe alles gesehen, nur nicht mit allem gerechnet. «Niemals habe ich damit gerechnet, dass die Dame einfach weiterfährt, sonst hätte ich doch angehalten. » Wieder und wieder sagt sie diesen Satz. Ihre Verteidigerin weist darauf hin, dass man auf das korrekte Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer vertrauen müsse. «Meine Mandantin ist doch keine Hellseherin. Wie hätte sie ahnen können, dass die alte Dame einfach geradeaus fährt.» Der Richter anerkennt die Reue der Angeklagten. Aber sie habe die sehr unübersichtliche Situation erkannt und wahrgenommen, dass die Velofahrerin keine Anstalten treffe, abzubremsen, um ihr den Vortritt zu gewähren. Ein Augenkontakt zwischen den beiden Damen sei nicht zustande gekommen. Artikel 26 Absatz 2 des Strassenverkehrsgesetzes auferlege jedoch die Pflicht, besondere Vorsicht walten zu lassen, wenn es Anzeichen dafür gebe, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer nicht an die Regeln halte. Diese Vorschrift, so das Obergericht, habe die 84-Jährige missachtet. Der vorsitzende Richter bestätigt den Fahrlässigkeitsvorwurf, aber «an der unteren Grenze». 60 Tagessätze à 70 Franken lautet die Strafe, einen zusätzlichen Denkzettel brauche sie nicht, zumal sie ja inzwischen das Billett schon freiwillig abgegeben habe. Frau P. weint. «Ich bin nur froh, dass es kein Kind war», sagt sie.

* Alle Namen geändert.

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