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Reportage

Alkoholrausch: Die einen schlafen friedlich ein, andere werden aggressiv. SYMBOLBILD: PD

Der Gerichtsfall

Von: Isabella Seemann

05. September 2012

Vorsicht vor fliegenden Wodkaflaschen

Niemand hat mehr mit dem Erscheinen der Beschuldigten gerechnet. Der Gerichtsweibel nicht und auch nicht die Schulklasse, die in der Eingangshalle wartet, selbst der Verteidiger hat seine Mandantin abgeschrieben. «Frau K.* fühlt sich heute möglicherweise nicht wohl», sagt er zum Richter und überreicht ihm ein ärztliches Attest, das Ljudmila K. Trunksucht bescheinigt. «Wenn ein Beschuldigter, ohne sich begründet zu entschuldigen, einer Vorladung nicht Folge leistet», erklärt der Richter den Berufsschülern, «könnte ich ihre Vorführung beantragen, dann gehen Polizisten hin und holen die Dame von zu Hause ab.» Plötzlich ist die Russin da. Eine Viertelstunde zu spät. Schwer zu sagen, ob sie aus der Bar kommt oder aus dem Bett. Grusslos, militärischen Schritts betritt sie den Gerichtssaal. Als hätte sie den Auftrag, eine Durchsuchung auszuführen, schaut sie sich um, eine Kommandantin mit schwarzem Pagenkopf, anthrazitfarbenem Hosenanzug, rot gelackter Damenhandtasche und 10-Zentimeter-Bleistiftabsätzen.

3,1 Promille im Blut
Es war in einer heissen Augustnacht letzten Jahres, sie sass in ihrer Einzimmerwohnung. Allein wie immer, vor dem Fernseher wie immer, mit einer Flasche Wodka wie immer. Im Innenhof der Seebacher Siedlung wurde grilliert, vor allem aber getrunken. An solchen Hausfesten bilden sich Verbrüderungen für einen feuchtfröhlichen Abend, Freundschaften, die nüchtern wieder aufgekündigt werden, und manchmal enden diese Partys im Fiasko. Ljudmila K., 51 Jahre alt, Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, steht nun vor Gericht, angeklagt der einfachen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Ehrverletzung. «Und wie fühlten Sie sich an dem Abend?», fragt der Richter. «Ganz nüchtern bin ich nicht mehr gewesen», sagt Ljudmila. «Aber dass ich besoffen war, kann ich auch nicht sagen.» Die Blutkontrolle ergab 3,1 Promille. «Da hätte ich scheintot hinterm Busch gelegen», kommentiert der Richter. Doch Ljudmila ist von anderem Kaliber. «Haben Sie mal an eine Entziehungskur gedacht?», fragt der Richter. «Ich brauch das nicht. Ich trink ja nicht aus Gewohnheit. » Sie sagt, sie habe getrunken, weil in der Familie etwas passiert war. «Mein Neffe hat sich umgebracht.» Ein paar Wochen zuvor. «Und wie ist es jetzt?», fragt der Richter. «Ich bin noch neben den Schuhen», sagt Ljudmila. Phasenweise, sodass sie sich stark betrinke. Nachbarn berichteten der Polizei, sie hätte zum Fenster heraus krakeelt und Anstalten gemacht, dass sie sich unten dazusetzen wolle. Nein, sagten die Nachbarn, in diesem betrunkenen Zustand sei das eine schlechte Idee. Da warf die Zurückgewiesene einen Stuhl sowie eine volle Schnapsflasche aus dem Fenster. Dabei ging eine Porzellanschüssel von Royal Copenhagen im Wert von 870 Franken zu Bruch, ein Partygast wurde durch Glassplitter verletzt und erlitt Schnittwunden.

Die anderen sind schuld
«Wo ist der medizinische Beweis, und wie kommt solch eine teure Schüssel auf solch einen billigen Plastiktisch?», empört sich die Beschuldigte lautstark. Es sei ein schöner, sonniger Tag gewesen, erinnert sie sich, man hat mich eingeladen, alle waren betrunken, nicht nur ich. «Die sind eine Gruppe, ich war neu. Sie haben mich Russenkuh und Schlampe genannt. Da habe ich eine Flasche Wodka zerschlagen und bin nach oben gegangen. Die waren wütend wegen des verlorenen Schnapses, traten meine Tür ein und penetrierten mich mit Schlägen.» Frau K. benutzt das Wort gerne, mehrmals im Prozess. «Ich bin die Geschädigte, ich!» Sie steigert sich immer mehr in die Rolle des Opfers: «Nachdem ich so zusammengeschlagen worden war, war ich fassungslos. » Niemand habe Ljudmila geschlagen, sagen die Zeugen einhellig. Die Frau mit dem einstmals hübschen Gesicht, in das sich das grobe Raster zu vieler Promille und zu langer Nächte im Milieu gegraben hat, ist modisch gekleidet und spricht gut Deutsch. Und doch bleibt sie mit ihrem rauen Akzent, ihrem ungebremsten Temperament eine Fremde hier im Saal, draussen in der Siedlung wohl auch. «Haben Sie einen Stuhl und eine Flasche aus dem Fenster geworfen oder nicht?», fragt der Richter. «Ich schmeisse meine Stühle nicht aus dem Fenster, ich brauche sie noch, und die Flasche brauchte ich auch», antwortet Frau K. Die Schulklasse kichert. Der Verteidiger spricht von Alkoholproblemen, einer schwierigen Lebenssituation, einem guten Herzen, hingegen könne von einer absichtlichen Verletzung keine Rede sein, und plädiert auf Freispruch. Für den Flaschenwurf gibt es einen Schuldspruch wegen versuchter einfacher Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand. Die Beschuldigte bekommt eine bedingte Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 30 Franken und eine Busse von 500 Franken. «Sie sind in aussergewöhnlicher Weise aus der Rolle gefallen», sagt der Richter am Ende der Verhandlung. Er sagt es fast begütigend zu der Beschuldigten. Aus Seebach ist sie weggezogen. Ob sie in Zürich bleibt, ist ungewiss: «Die Stadt sei so aggressiv.» Ljudmila K. verlässt den Saal, wie sie ihn betreten hat, kriegerisch und würdevoll. Sie will Einspruch erheben, Verfahren einleiten, sich rächen. Zu Hause dann wird sie trinken und weinen.

* Persönliche Angaben geändert.

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