Reportage
Der Gerichtsfall
Von: Isabella Seemann
Vom Beachboy zum Familientyrannen
Kamil* ist ein gut aussehender, junger Mann mit olivfarbener Haut und dunklen, melancholischen Augen, wie sie anderen, wenn ihnen das Glück hold war, Filmrollen einbrachten, nach denen die Frauen sich verzehrten. Omar Sharif zum Beispiel, der Don Juan des Morgenlandes. Kamil hatte aber nicht so viel Glück. Er landete weit entfernt von Hollywood, in Seebach und – ginge es nach dem Staatsanwalt – verbrächte er die nächsten zweieinhalb Jahre im Bezirksgefängnis in Affoltern am Albis oder in Pfäffikon.
«Ich habe meine Frau nicht vergewaltigt», sagt Kamil als Erstes zur Sache. Sie lernten sich am Strand von Hammamet kennen, die Sonne schien. Jenny war 36 und hatte Ferien. Kamil war 22 und Kellner in einer Hotelanlage. Unter Tunesiens Himmel fingen die alleinerziehende, geschiedene Mutter und der muskulöse, gross gewachsene Mann was miteinander an. Es wurde etwas von Dauer. Jenny und Kamil haben zusammen zwei Söhne, vier und zweieinhalb Jahre alt. Kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten, wurde geheiratet. Das ist jetzt knapp fünf Jahre her.
Jenny wollte die Scheidung
Seitdem sie in Seebach zusammenleben, hat sich alles geändert. Der Alltag ist kein Strandurlaub. Kamil jobbt in Nachtschichten als Lagerist, tags ist er müde und gereizt. Wenn er nicht arbeitet, was meistens der Fall ist, geht er bis frühmorgens in den Ausgang und ist tagsüber auch müde und gereizt. Jenny, die noch einen Sohn aus erster Ehe hat, bringt die Familie durch mit ihrem Lohn als Teilzeitsekretärin.
Wie die Liebe abhandenkam, wird vor Gericht nicht erzählt, aber vor zwei Jahren wollte Jenny die Scheidung. Kamil wollte sie nicht und liess sich auch nicht so schnell abservieren. Sie einigten sich darauf, dass Kamil auf der Couch im Wohnzimmer schlief und «dass sie sich in Ruhe lassen». So sagt es Jennys Opferanwältin.
Der Staatsanwalt hatte vorgelesen, was Kamil zur Last gelegt wird. Er habe seine Frau mehrfach «geschlagen, genötigt, sexuelle Handlungen zu dulden, und vergewaltigt». Er habe gesagt, «heute Abend lege ich dich flach, heute Abend werde ich dich ficken». Der Staatsanwalt zitiert, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Herren und Damen des Gerichts folgen ungeniert wie das Publikum einem Skandaltheater im Schauspielhaus. Aber es geht hier nicht um Provokation, es geht um Wahrheitsfindung. Wahrheitsfindung allerdings ist eine komplexe Sache. Es gibt nur Behauptungen. Was hinter verschlossenen Türen vor sich ging, wissen nur der Beschuldigte und die Geschädigte. Jedenfalls, wenn keine sichtbaren Verletzungen vorliegen.
Die einzige Zeugin in dieser Geschichte ist Jennys Tante. Ihr habe sie gleich am nächsten Morgen erzählt, dass Kamil sie vergewaltigt habe. Worauf sie Jenny riet, ihn anzuzeigen. Es war nicht der erste Vorfall. Etwa einen Monat nachdem die Partner beschlossen hatten, sich in Ruhe zu lassen, habe Kamil Jenny vor den Kindern bedrängt, mit Worten und Händen, es gab eine unschöne Auseinandersetzung, in deren Folge sie zur Polizei ging und kurz danach auf deren Rat ins Frauenhaus.
Vier Wochen später kehrte sie mit den Kindern in die Wohnung zurück und teilte ihm mit, dass sie sich definitiv scheiden lasse wolle. Kurz danach überfiel er sie aus heiterem Himmel, warf sie aufs Bett, klammerte sie mit Händen und Beinen fest, wollte mit den Worten «du bist meine Frau» Verkehr erzwingen. Danach rief sie die Polizei.
Immer Sex nach dem Streit?
Mehrere Stunden geht es bei Gericht nun um die ganz genauen Abläufe dieser paar Minuten. Wie sie lag, wo er lag, wann er ihr und sich was auszog. Manche Fragen muten an, als hätten die Herren Juristen selber keine Fantasie und kein Sexualleben. «Wenn er sie mit beiden Händen festgehalten und ihr noch den Slip heruntergezogen hat, da muss er ja drei Arme gehabt haben», meinte der Pflichtverteidiger. «Ich muss das ganz genau wissen», erklärt der Richter, denn alles sei eine Frage der Bewertung. Gab es irgendein Einverständnis vonseiten der Frau? Eine Art Gewohnheitsrecht, weil es oft so ähnlich war? Hatten sie immer Sex nach dem Streit? Nein, versichert Kamil auf Französisch. «Ich bin ein sanfter Liebhaber und akzeptiere ein Nein als ein Nein.» Kamil sei kein aggressiver Macho und frauenverachtender Araber, als der er vom Staatsanwalt dargestellt werde, sagt sein Pflichtverteidiger. Sein Mandant sei den Kindern ein vorbildlicher Vater, erledige als Hausmann alle Hausarbeiten, es falle ihm keinen Zacken aus der Krone, die Windeln zu wechseln. Jenny habe die Scheidung längst zurückgezogen und zudem eine Desinteresseerklärung eingereicht. Die Staatsanwaltschaft aber muss den Fall zu Ende führen, denn Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt, das unabhängig vom Willen des Opfers verfolgt werden muss. Und dass es sich um eine Vergewaltigung handelte, habe das Opfer ja gleich am nächsten Morgen seiner Tante detailliert und glaubhaft dargelegt. «Aber mir ist völlig klar, dass dieser Fall schwierig zu beurteilen ist», stöhnt der Staatsanwalt auf.
Das Gericht verurteilt Kamil wegen sexueller Nötigung im minderschweren Fall zu neun Monaten mit zweijähriger Bewährungszeit. Sehr gerade steht Kamil hinter der Anklagebank, als das Urteil verlesen wird, sein Antlitz trägt den gedemütigten Stolz, der eines orientalischen Filmprinzen würdig wäre. Jenny und er leben wieder richtig zusammen. Ihre Beziehung steht unter grossem Druck, den sie gegenseitig ausüben. Wenn einer das Patt aufkündigt, gerät alles aus den Fugen. Lässt sie sich scheiden, kehrt er nach Tunesien zurück und entführt vielleicht die Kinder. Er hat damit gedroht.
* alle Namen geändert
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