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Reportage

Historischer Moment: Am 1. Juli 2003 liessen Ernst Ostertag (rechts) und Röbi Rapp ihre Partnerschaft offiziell im Stadthaus Zürich registrieren. Bild: Keystone

Der lange und emotionale Weg bis zur «Ehe für alle»

Von: Jan Strobel

28. Juni 2020

Als der Nationalrat am 11. Juni der «Ehe für alle» und der Legalisierung der Samenspende für lesbische Paare zustimmte, bedeutete das für Homosexuelle einen bedeutenden Meilenstein. Mit dem Entscheid nahm ein Kampf, der vor 25 Jahren seinen Anfang nahm, eine entscheidende erste Hürde. Doch bereits hat die EDU angekündigt, das Referendum zu ergreifen. Die Geschichte eines Ringens im Zeichen des Regenbogens. 

Wenn ein Liebestraum Ängste auslöst

«Zwei sind besser als einer allein. Der Gott, der mir in der Bibel begegnet, ist keiner, der die Menschen niedermacht, sondern einer, der will, dass die Menschen leben und lieben.» Die Worte des Pfarrers hallten den Gästen der Hochzeitsgesellschaft an jenem Junitag 1995 emotionsträchtig entgegen, und als das aufgeregte Paar nach dem zweiten Versuch erfolgreich die Eheringe austauschte, brandete Applaus durchs Kirchenschiff.

Diese Trauung, die damals in der Berner Nydeggkirche vollzogen wurde, war in der Schweiz einmalig, und sie löste eine gesellschaftliche Diskussion aus, die bis heute geführt wird. Denn vor dem Altar gaben sich damals nicht ein Mann und eine Frau das Jawort, sondern Stephan Diggelmann und Bareld Storm, ein schwules Paar, die sich einander in guten und in schweren Zeiten als Lebenspartner annehmen wollten.

In der Öffentlichkeit, vor allem in den Medien und in der Politik, sorgte diese symbolische «Homo-Trauung» für Furore – und natürlich für Furor. Verschiedene Frauen boten dem Paar an, ein Kind für sie auszutragen, während in der Sendung «Zischtigs­club» ein Zürcher Pfarrer Bedenken äusserte. Das «gesunde Durchschnittsempfinden», meinte er, könne sich mit Schwulenhochzeiten nicht anfreunden.

Die Berner Aktion stand in einer Linie mit der im Januar 1995 lancierten Petition «gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare», welche die Homo- und Lesbenorganisationen Pink Cross und LOS eingereicht hatten. Im September wiederum konterte die EDU bei der Bundeskanzlei mit einer eigenen Petition gegen die Gleichstellung von homosexuellen Paaren. Eine Gesellschaft, die Homosexualität fördere, hiess es im Petitionstext, zerstöre sich selbst.

Ihr Ziel indessen hatte die Berner «Trauung» erreicht: Es war ein Zeichen, eine Entwicklung in Gang gesetzt worden für die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften, auch wenn die Idee einer «Ehe für alle» Mitte der 1990er-Jahre in der Schweiz noch wie eine Utopie erschien. Im Dezember 1999  hiess der Nationalrat eine parlamentarische Initiative für registrierte Partnerschaften zwar gut, lehnte eine weitere für die Homosexuellen-Ehe aber ab.

Zürich spielte in dieser Entwicklung als grösste Stadt der Schweiz und Zentrum der homosexuellen Community eine entscheidende Rolle als Impulsgeberin. Am 23. Juni 2001 demonstrierten hier anlässlich des Christopher Street Days Tausende Schwule und Lesben für gleiche Rechte in der Partnerschaft. Zu ihren wichtigsten Fürsprechern gehörte der damalige Zürcher Bundesrat Moritz Leuenberger. Signalwirkung hatten insbesondere zwei Ereignisse: der Entscheid der deutschen Regierung, einen eheähnlichen Status für homosexuelle Paare zu schaffen, und die Einführung der eingetragenen Partnerschaft im Kanton Genf im Mai 2001.

«5000 Jahre gewartet»
Die Zürcher Stimmberechtigten folgten dem Genfer Modell am 22. September 2002, als sie das Gesetz über die Registrierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mit 62,7 Prozent annahmen. Im Stadtzürcher Kreis 5 fiel das Resultat am deutlichsten aus. 85,3 Prozent stimmten dort für das Gesetz.

Das Zürcher Votum kam auch in Bern an: Noch im selben Jahr verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zum Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft. Der Nationalrat – mit Ausnahme der SVP, EVP und EDU, die moralische und politische Bedenken äusserten – folgte weitgehend dem Bundesrat, sprach aber schwulen und lesbischen Paaren das Adoptionsrecht ab und liess auch fortpflanzungsmedizinische Verfahren nicht zu. Die FDP begrüsste das Gesetz, das der freisinnigen Grundüberzeugung entspreche, dass jeder und jede in der Schweiz in Freiheit und Verantwortung auch die Form des Zusammenlebens wählen könne. Für die Freisinnigen war es auch denkbar, dass die Verbindung gleichgeschlechtlicher Paare auf die gleiche Stufe gestellt werde wie eine heterosexuelle Ehe.

Bei Brigitte Röösli, der heutigen Zürcher SP-Kantonsrätin und damaligen Co-Präsidentin der Lesbenorganisation Schweiz (LOS), löste der  nationalrätliche Beschluss Erleichterung aus. «5000 Jahre hätten Schwule und Lesben auf diesen Tag warten müssen», meinte sie scherzhaft. Den grössten Schwachpunkt der Vorlage sah sie allerdings im ganzen Adoptionsbereich.

In Zürich begann das neue Kapitel im Kampf um die Gleichberechtigung ganz konkret und feierlich am 1. Juli 2003. An diesem Tag ging für die beiden 73-jährigen Ernst Ostertag und Röbi Rapp ein Traum in Erfüllung. In Anwesenheit des damaligen Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber  liess das Paar im Stadthaus Zürich seine bald 47-jährige Partnerschaft offiziell registrieren. «Das ist ein grosser Tag des Menschenrechts», meinte Ernst Ostertag unter grossem Applaus und erinnerte auch an die repressiven Zeiten, die er und viele andere Schwule durchleben mussten.

Am 5. Juni 2005 nahm schliesslich auch das Schweizer Stimmvolk mit 58 Prozent das Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare an. Die Genfer, Zürcher und nun auch die gesamtschweizerischen Resultate zeigten, dass sich die homosexuelle Community in der Gesellschaft durchaus auf eine breitere Akzeptanz stützen konnte, als erwartet.

Mit dem neuen Partnerschaftsgesetz konnten nun schwule und lesbische Paare ähnliche Pflichten und Rechte eingehen wie Ehepaare. Der Ehe gleichgestellt waren eingetragene Partnerschaften zum Beispiel in den Bereichen des Erbrechts oder des Steuerrechts. Auch Besuche im Spital und Auskünfte oder die Mitsprache bei einer medizinischen Behandlung wurden jetzt möglich.

Im Gegensatz zur Ehe schaffte die Partnerschaft allerdings keinen Anspruch ausländischer Partner auf eine erleichterte Einbürgerung. Eingetragene Partner konnten auch keinen gesetzlichen gemeinsamen Namen führen. Homosexuelle Paare durften weder Kinder adoptieren noch auf Verfahren der Fortpflanzungsmedizin zurückgreifen.

Das neue, gesamtschweizerische Gesetz trat am 1. Januar 2007 in Kraft. Das erste homosexuelle Paar liess sich im Kanton Tessin registrieren. In den folgenden Wochen verzeichnete besonders der Kanton Zürich einen Ansturm auf die Zivilstandesämter. 184 gleichgeschlechtliche Paare liessen sich allein im Januar eintragen, davon 115 in der Stadt Zürich. Zum Vergleich:  Im gesamten Jahr 2019 liessen sich im Stadthaus 111 homosexuelle Paare registrieren.

Die neue Institution der eingetragenen Partnerschaft erwies sich, anders als von den Gegnern oft kolportiert, in den Folgejahren stabiler als erwartet. Die Scheidungsrate liegt in der Stadt Zürich aktuell mit rund 37 Prozent leicht unter derjenigen von heterosexuellen Paaren. Rund 40 Prozent der Ehen gingen 2019 in die Brüche.

Der Ruf aus Zürich
Auch mit der schweizweiten Einführung der eingetragenen Partnerschaft blieb das Ziel einer «Ehe für alle» auf der Agenda. Der Impuls kam dieses Mal aus den Reihen der GLP. In Zürich machten sich 2013 die Jungen Grünliberalen stark für die Eheschliessung von gleichgeschlechtlichen Paaren, verbunden mit der Möglichkeit von Voll- und Teiladoptionen. Der Staat, so die Begründung, dürfe unterschiedliche Familienmodelle nicht werten oder gar diskriminieren.

Dem Ruf aus Zürich folgte wenig später auch die GLP-Fraktion um Nationalrätin Kathrin Bertschy mit einem Gegenvorschlag zur CVP-Initiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe. Die Initiative definierte die Ehe als «auf die Dauer angelegte und gesetzlich geregelte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau». Für die Grünliberalen war das ein veralteter und diskriminierender Ehebegriff. Stattdessen sollte eine «Ehe für alle» allen Paaren, unabhängig vom Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung, offenstehen.

Damit war die Grundsatzdebatte über das Verständnis der Ehe endgültig eröffnet. «Die Ehe ist tot – es lebe die Ehe», hiess das Motto. Manche Kommentatoren postulierten gar ein baldiges «Ehe-Aus». Im September 2015 sprach sich die Rechtskommission des Ständerats dafür aus, die Ehe für alle gleichgeschlechtlichen Paare zu öffnen. Damit konnte die parlamentarische Initiative der Grünliberalen umgesetzt werden.

Im März 2016 konnten die Befürworter einer «Ehe für alle» einen entscheidenden Sieg verbuchen, als die CVP-Initiative an der Urne knapp scheiterte. Tatsächlich zeigten spätere Befragungen, dass der strikte Ehebegriff einer der Gründe für die Ablehnung gewesen war.

Ein weiteres Signal, wohin die Reise für den Ehebegriff ging, kam erneut aus dem Ausland, als im Juli 2017 der Deutsche Bundestag für die Einführung der «Ehe für alle» stimmte. In der Schweiz mahlten die Mühlen langsamer: Ein Knackpunkt für eine Umsetzung bildete vor allem die Frage des Adoptionsrechts für schwule und lesbische Paare. Immerhin kam 2019 auch Support vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund, der die  Ehe für alle befürwortete. Und im letzten März schwenkte auch die CVP offiziell ins Lager der Befürworter. Als einzige Fraktion sprach sich im Nationalrat die SVP dagegen aus.

Am 11. Juni schliesslich nahm die Ehe für alle eine entscheidende Hürde, sie war quasi fast schon «unter der Haube», als der Nationalrat der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wuchtig zustimmte und auch die umstrittene Samenspende für lesbische Paare guthiess. Nun liegt der Ball noch beim Ständerat.

Die EDU kündigte an, das Referendum zu ergreifen. Für die Partei ist «die Ehe die natürliche, bewusst eingegangene Verbindung von Mann und Frau, aus welcher Kinder entstehen, welche die Gesellschaft von morgen gestalten».

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Ein Kinderwunsch wird zur Leidensprüfung

Für homosexuelle Paare mit Kinderwunsch kam es einem Lichtblick gleich, als der Nationalrat 2012 bekanntgab, zumindest das Adoptionsverbot lockern zu wollen, konkret, ihnen die Stiefkindadoption zugänglich zu machen. Der Entscheid nahm eine gesellschaftliche Entwicklung auf: In der Schweiz wächst die Zahl von «Regenbogen-Familien» stetig, schätzungsweise rund 30 000 Kinder leben heute in solchen Familien. Am 1. Januar 2018 trat die Regelung zur Stiefkindadoption in Kraft.

Lesbischen Paaren bleibt aber weiterhin der Zugang zu Samenspenden verwehrt. Die Insemination ist ausschliesslich verheirateten heterosexuellen Paaren vorbehalten. Die Situation umgehen viele lesbischen Paare, indem sie Fruchtbarkeitskliniken im Ausland aufsuchen oder auf eine Samenspende durch einen Mann ausweichen, der später als «Vater unbekannt» registriert wird.

Eine Schwierigkeit besteht auch darin, eine vertrauensvolle Frauenärztin oder einen Frauenarzt für die Voruntersuchung zu finden. Dazugesellt sich die finanzielle Belastung, da sämtliche Behandlungen selber getragen werden müssen. Ein weiterer Stolperstein sind die rechtlichen Hürden, die nach einer erfolgreichen Samenspende oder einer In-vitro-Fertilisation genommen werden müssen. Damit die Partnerin ebenfalls die Mutterschaft erhalten kann, muss sie das Verfahren der Stiefkindadoption durchlaufen. Allerdings wird dies erst dann möglich, nachdem das Kind ein Jahr alt geworden ist. Das Verfahren kann danach bis zu zwei Jahre dauern. Dazu muss sich die Familie einer Sozialabklärung unterziehen.

Das Verbot der Samenspende und die damit verbundenen Schwierigkeiten, befürchtete unlängst der Dachverband Regenbogenfamilien, verwehre vielen lesbischen Paaren den Kinderwunsch und die Familienplanung über Jahre hinaus.

Weitere Forderungen?
Die Gegner einer Legalisierung der Samenspende für lesbische Paare, allen voran die SVP und die EDU, argumentieren, einer Zulassung würden weitere Forderungen quasi auf dem Fuss folgen, bis hin zur Leihmutterschaft, die heute in der Schweiz verboten ist.

Stadtpräsidentin Corine Mauch zeigte sich über die Zustimmung des Nationalrats zur Ehe für alle und die Samenspende für lesbische Paare auf Facebook hocherfreut: «Endlich. Der Nationalrat macht mit seinem heutigen, überaus deutlichen Entscheid zur Ehe für alle, der auch die Samenspende für lesbische Paare beinhaltet, einen wichtigen und überfälligen Schritt in Richtung tatsächliche Gleichstellung.» In der Stadt Zürich machen eingetragene Partnerschaften aktuell lediglich 0,1 Prozent der Familien mit Kindern im Alter von 6 Jahren oder jünger aus.

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