mobile Navigation

Reportage

Lesen bildet, dies war die Botschaft von Wilfried Treichler, dem unterhalb des Hottingerplatzes eine Strasse gewidmet wurde. Bild: Urs Hardegger

Der Mann, der Hottingen verwandelte

Von: Urs Hardegger

21. März 2017

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Wilfriedstrasse.

Zahlreiche Häuser mit bemerkenswerten Jugend- und Heimatstilfassaden sind das Markenzeichen der Wilfriedstrasse, knapp unterhalb des Hottingerplatzes. Eigenartig, dass nur der Vorname erwähnt ist, obwohl sie an Wilfried Treichler (1854–1946) erinnert. War es Bescheidenheit, stand er mit allen per Du, oder wollte man ganz einfach Farbe sparen? Wir wissen es nicht.

Gerade da, wo ich stehe, an der Ecke zur Gemeindestrasse, stand rechts das Wirtshaus zur Sonneneck, wo am 4. November 1882 Zürcher Kulturgeschichte geschrieben wurde. Nichts erinnert heute an das Treffen Wilfrieds mit seinem Turnerkollegen Hans Bodmer. Das Wirtshaus musste längst einem neuen Gebäude weichen – statt Bier werden heute Dienstleistungen, Reformprodukte und Kleider angeboten.

Die beiden Hottinger waren sich einig, dass Bildung – im Geist des 19. Jahrhunderts als Befreiung verstanden – allen unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Ansehen zugänglich sein sollte. Deshalb gründeten sie einen Verein, der seinen Mitgliedern «durch Circulationen von Zeitschriften und Anschaffung von Büchern Gelegenheit zu nützlicher Unterhaltung und Belehrung» bot. Das war die Gründungsstunde des Lesezirkels Hottingen.

Lieferdienst für Bücher

Die beiden trafen mit ihrem Projekt den Nerv der Zeit. Schon nach kurzer Zeit zirkulierten unter den 130 Mitgliedern über 500 Mappen. In seinen besten Jahren zählte der Lesezirkel gar mehr als 2000 Mitglieder. Wie eine Bibliothek mit Hauslieferdienst muss man sich das Unternehmen vorstellen. Ausläufer, Dienstmädchen und Schüler trugen die Lesemappen mit Büchern und Zeitschriften bis in die hintersten Ecken der Stadt. Die Büchersammlung wuchs stetig, erreichte 1932 15 000 Bände, und in einer kleinen Zeitschrift wurden Vorträge und Veranstaltungsberichte veröffentlicht.

War Hottingen Zürichs «Quartier Latin» wie es gelegentlich bezeichnet wurde? Vielleicht etwas übertrieben. Doch zweifellos stieg der Lesekreis mit der Zeit zur massgeblichen kulturellen Institution der Limmatstadt auf.

Wer sich bildet, möchte sich auch darüber austauschen. Deshalb schuf man den Literarischen Club, der gesellige Bildungsabende, Vorträge, Feiern und gemeinsame Ausflüge organisierte. Beeindruckend, welch illustre Schar der Club für Lesungen und Vorträge gewinnen konnte. Frank Wedekind war für einen «dramatischen Vortrag» geladen, Ricarda Huch trug Gedichte vor, und Robert Walser, der den Verein als Hosenzirkel Lettingen verulkte, war regelmässiger Gast. Auch Carl Spitteler und Meinrad Lienert gaben Lesungen, genauso wie C. G.  Jung, Thomas Mann, Hermann Hesse, Stefan Zweig und Else Lasker-Schüler ihre Gedanken zur Diskussion stellten. Die Liste liesse sich fast beliebig verlängern. Ob Schriftsteller, Philosophen oder Wissenschaftler: Alles, was Rang und Namen hatte, gab sich die Ehre.

Durch sein hohes Ansehen und die Nähe zum Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung» erhielt der Lesekreis im kulturellen Leben der Stadt eine herausragende Stellung. Dies rief auch Kritiker auf den Plan. Vor allem junge Schriftsteller fühlten sich vernachlässigt, empfanden die Macht als unheimlich und kritisierten, dass man sich nur an den grossen Namen orientiere.

Ende mit Kriegsbeginn

In den 1930er-Jahren verlor das literarische Kränzchen den jugendlichen Schwung, und der Niedergang setzte ein. Neue Arten der Geselligkeit, modernere Formen der Bildung und Freizeitgestaltung wie Volkshochschule, Kino, Radio, Grammofon und Bibliotheken breiteten sich aus. Es muss ein bitterer Moment für Wilfried gewesen sein, als der Lesezirkel zu Beginn des 2.  Weltkriegs – kurz vor seinem Tod – wegen finanzieller Schwierigkeiten liquidiert werden musste.

Quellen:
NZZ 18.6.1999, 3.10.2000, Ulrich, Conrad: Der Lesezirkel Hottingen. Zürich 1981.

Lesen Sie am 5. April 2017 den Beitrag zum Emilie-Kempin-Spyri-Weg.

Werden Sie Facebook-Friend von uns

zurück zu Reportage

Artikel bewerten

Gefällt mir ·  
Noch nicht bewertet.

Leserkommentare

Keine Kommentare