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Reportage

Braucht zwei Bier oder einen Joint, bis er sich zum Betteln durchringen kann: Meili im Gespräch mit den SIP-Mitarbeiterinnen Julia Minder (l.) und Rebecca Fröhlicher. Bild: SB

Der tägliche Kampf um etwas Würde – und «en Stutz»

Von: Sacha Beuth

07. November 2017

In Zürich sind jeden Tag mehrere Dutzend Randständige unterwegs, die Passanten um Geld bitten. Die Tätigkeit kostet viele Bettler Überwindung, doch sehen sie darin den einzigen Ausweg, einen Rest von persönlicher Freiheit zu wahren, wie ein Rundgang mit einer SIP-Patrouille zeigt.

Seit rund drei Jahren ist Ruschi obdachlos. Mit Betteln, oder wie es im Strassenjargon heisst, «Mischle» hält sie sich nur ungern über Wasser. «Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass dies jemand gerne tut. Es ist ziemlich entwürdigend.» Zudem sei es eine unsichere Quelle, bei der man an guten Tagen 100 Franken in einer Stunde, an schlechten nur 50 im ganzen Tag einnehmen könne. «Lieber arbeite ich für mein Geld und gehe anschaffen», sagt die 47-Jährige freimütig, während sie ihr Migros-Wägeli mit ihren Habseligkeiten vor dem Kino Metropol parkiert.

Im Beisein der SIP-Mitarbeiterinnen Rebecca Fröhlicher und Julia Minder erzählt Ruschi dann von ihrem Leben. Wie sie als Teenager von zu Hause abgehauen ist, sich mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen hat. Wie man ihr die Kinder wegnahm. Wie sie vergeblich darum kämpfte, sie wieder zurückzubekommen. Und wie sie mit Drogen in Kontakt kam, abstürzte und auf der Strasse landete.

Mühe mit Strukturen

Es ist ein typisches Schicksal, wie sich später bei der Befragung weiterer bettelnder Randständiger herausstellen wird. Alle haben private oder gesundheitliche Probleme aus der Bahn geworfen. «Und nicht jeder Mensch ist nun mal in der Lage, solche Schläge wegzustecken», erklärt Fröhlicher. Kommt hinzu, dass viele Randständige schon zuvor Mühe hatten, sich Strukturen und einem geregelten Tagesablauf unterzuordnen (siehe Interview). «Auch in der jetzigen Situation wollen sie nicht auf gewisse Freiheiten verzichten. Sie misstrauen den Behörden. Es gelingt ihnen nicht, sich beim betreuten Wohnen mit Mitbewohnern zu arrangieren. Und sie fühlen sich bevormundet, weil sie mit 50 Franken Sackgeld pro Monat auskommen müssen, während der Rest ihrer AHV oder IV für die Sozialleistungen einbehalten wird.» Die SIP Züri (Sicherheit, Intervention, Prävention) hat für die Randständigen ein offenes Ohr, versucht zwischen ihnen und den Behörden, Anwohnern oder Passanten zu vermitteln. «Wir achten zum Beispiel darauf, dass nicht aggressiv gebettelt wird. Sonst wird dies der Polizei gemeldet», erzählt Minder. «Wenn die Bettler aber höflich im Vorbeigehen nach einem Stutz fragen, lassen wir Toleranz walten.»

An der Tramstation Stauffacher hat es sich Meili auf einem Mäuerchen bequem gemacht. Der ehemalige Landschaftsgärtner ist wegen eines Sturzes vom Baum IV-berechtigt. Gerne würde er wieder auf dem Beruf arbeiten. «Aber ich bin bald 50, obdachlos und nur zu 40 Prozent arbeitsfähig. Wer nimmt mich denn schon?» Auch er «mischelt». «Allerdings brauche ich immer zwei Bier oder einen Joint, bis ich mich dazu durchringen kann.»

3 Fragen an: Christian Fischer, Betriebsleiter SIP Züri

Trotz Verbots wird man in Zürich angebettelt. Ist unsere Stadt zu attraktiv für Bettler?

Christian Fischer: Nein. Von den rund 60 Personen, die wir begleiten, dürfte zwar die Mehrzahl zumindest gelegentlich betteln. Aber insgesamt und im Vergleich etwa mit deutschen Städten ist das eine geringe Zahl. Zudem hat sich offenbar herumgesprochen, dass in Zürich aktives Betteln konsequent verfolgt wird, sodass wir in letzter Zeit keine Probleme mit organisierten Bettlern aus dem Ausland hatten.

Wieso wird bei uns gebettelt? Reichen die Sozialleistungen nicht, um jedem Essen und eine Schlafstelle zu bieten?

In der Theorie schon. In der Praxis ist es so, dass viele Randständige Probleme mit einem strukturierten Alltag und eine Aversion gegen Behörden haben. Etliche unserer Klienten haben Anspruch auf AHV oder IV, den sie aber nicht einlösen.

Was, wenn man einem Bettler trotz allem Geld oder etwas zu essen geben möchte?

Das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Erhält ein Bettler Bargeld, macht er damit, was er will. Kauft man ihm etwas zu essen oder zu trinken, behält man zwar die Kontrolle, muss aber Zeit und Nerven aufwenden. Und riskiert am Schluss, dass einem der Bettler nicht nur ein Sandwich, sondern zusätzlich doch noch Bargeld abschwatzt.

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