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Reportage

Carl-Spitteler-Strasse mit Kirchturm der katholischen Kirche Maria Krönung. Bild: Helena Wehrli

Der Weg des eigenwilligen Mahners

Von: Urs Hardegger

14. April 2015

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt in einer Serie jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Carl-Spitteler-Strasse.

Grauhaarig, furchige Stirn, markante Nase, Vollbart, so schreitet der knapp 70-jährige Carl Spitteler (1845–1924) am 14. Dezember 1914 zum Rednerpult im Zunfthaus zur Zimmerleuten am Limmatquai. Rund 200 Gäste erwarten ihn, um seine Rede «Unser Schweizer Standpunkt» zu hören. Spitteler will mit seinen Landsleuten Klartext sprechen, denn das Land droht zu Beginn des Ersten Weltkriegs auseinanderzubrechen. Während das Welschland unübersehbar mit Frankreich fraternisierte, ergriff die germanophile Deutschschweiz überwiegend Partei für das Deutsche Reich. Die Wahl des deutschfreundlichen Generals Wille hatte den Sprachgraben noch weiter aufgerissen.

Wie eine sanfte Welle schwingt sich die Carl-Spitteler-Strasse in Witikon am Hang des Adlisbergs entlang vom Zentrum in Richtung Trichtenhausen. Fast hat man das Gefühl, dass die Strasse alle aufnehmen und vereinen möchte. Von den Kleinen des Montessori-Kinderhauses bis zu den Betagten der Residenz Segeten ist jedes Alter vertreten, vom Kinderwagen bis zum Rollator, vom Skateboard bis zum VBZ-Bus jedes Fortbewegungsmittel anzutreffen. Umgeben von vielen Grünanlagen wird hier gelebt, gewohnt und gearbeitet.

Distanz halten, aber Leid lindern

An dieser offenen, durchgrünten Strasse hoch über der Stadt erinnert wenig an die bitteren Zeiten des Ersten Weltkriegs, als die Schweizer ­Gefahr liefen, sich von der kriegerischen Propaganda des Auslands vereinnahmen zu lassen. «Wollen wir oder wollen wir nicht ein schwei­zerischer Staat bleiben, der dem ­Auslande gegenüber eine politische Einheit darstellt?», war Spittelers rhetorische Frage zu Beginn seiner Rede. Seine Antwort war eindeutig: Distanz halten gegenüber allen Kriegsparteien und die Landsleute ennet der Sprachgrenze als Brüder – von den Schwestern sprach man damals noch nicht – betrachten. Neutral bleiben hiess für ihn jedoch nicht, über das Leid der andern ­Völker hinwegzusehen. «Das rechte Wort vom rechten Mann zur rechten Zeit!», brachte die «Neue Zürcher Zeitung» die Bedeutung der Ansprache auf den Punkt.

Spittelers Rede hätte gut in die Paulus-Akademie gepasst, welche die Strasse des Schriftstellers weit über Zürich hinaus bekannt gemacht hat. «Differenziert, interdisziplinär und kritisch» sollen hier alle Themen diskutiert werden. Der Wegzug der Akademie in den Kreis 5 Ende Jahr wird ein herber Verlust für das Quartier sein. Differenziert wollte auch Spitteler das Thema angehen. Über hundert beschriebene Blätter mit Notizen zeugen von seinem inneren Kampf. Denn Spitteler war sich bewusst, dass er nicht nur Applaus ernten würde. Im In- und Ausland waren die Reaktionen teils heftig, oft unsachlich, zuweilen auch bösartig. Er krieche aus Rücksicht auf den Fremdenverkehr vor dem englischen Geld, warf ihm beispielsweise das Stuttgarter «Neue Tagblatt» vor und erklärte ihn gleich für Deutschland als «abgetan».

Fragt man heute, wer Spitteler war, sieht man meist fragende Gesichter. Dies, obwohl er der einzige Schweizer Schriftsteller ist, der bisher den Literaturnobelpreis erhielt. Doch Carl Spitteler war zeitlebens ein eigenwilliger Autor. Mit seinem aristokratischen Gehabe stiess er an, in seinen Epen und Heimaterzählungen bewegte er sich, weit entfernt von den Alltagssorgen der Menschen, in höheren geistigen Gefilden. Seine Texte stellen heutige Leser mitunter auf eine harte Probe. Umso bemerkenswerter, dass er, trotz anfänglichem Zögern, sich zu dieser Rede durchrang. Ihre Wirkung entfaltete sie allerdings erst in den 1930er-Jahren, als sie – angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung – zu einem Orientierungspunkt der «Geistigen Landesverteidigung» wurde.

Quellen:
Münger, Felix: Reden, die Geschichten schrieben. Baden 2014.
Stauffacher, Werner: Carl Spitteler. ­Zürich 1973.

Lesen Sie am 13. Mai den Beitrag zur Anna-Heer-Strasse.

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