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Reportage

«Der andere Mann hat mich provoziert. Er hat mich entehrt.» Bild: PD

Die Ehre verletzt, den Hals aufgeschlitzt

Von: Isabella Seemann

30. September 2014

Krawall unter Asylbewerbern: Der Streit zwischen drei Arabern eskalierte, einer stach zu und wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Vor Obergericht legt er Berufung ein – und erlebt eine Überraschung.

Er will nach Hause. Nach Marokko, in sein Heimatdörfchen am Fusse des Atlas, zur Mutter und den sieben Brüdern. Bloss weg hier, am liebsten sofort. Aber Ali* ist nicht frei zu gehen, wohin er will. Momentan sitzt er in Saal 2 des Obergerichts, flankiert von Pflichtverteidiger und Übersetzer, bewacht von zwei Polizisten, die ihn vom Gefängnis Pöschwies an die Verhandlung chauffiert und ihm gerade die Handschellen abgenommen haben. Ali*, 24-jährig, Mittelgewicht mit groben Gesichtszügen, trägt zu seiner Berufungsverhandlung den Anzug, den er immer trägt: einen blauen Trainer mit drei Streifen, dazu weisse Turnschuhe. Man sieht nicht, ob die Zelle ihm was ausmacht und ob es viel Unterschied bedeutet, wo sein Bett steht, im Asylheim oder im Knast. Über seinem Kopf hängt ein ovaler Kronleuchter, das Gold leuchtet wie ein sonniges Versprechen.


Ali hat sich viel vorgenommen. Er möchte wegen einfacher Körperverletzung statt versuchter Tötung schuldig gesprochen und dementsprechend höchstens zu einer Geldstrafe statt zu den sieben Jahren Gefängnis verurteilt werden, wie es das erstinstanzliche Urteil des Bezirksgerichts vorsah. «Das ist viel zu viel», sagt er mit selbstmitleidiger Stimme zum Vorsitzenden Richter des Obergerichts. «Der andere hat mich provoziert.»


Er blutete wie ein geschächtetes Schaf
Der andere, das ist Khaled, aus dem Maghreb wie Ali, nach einer Irrfahrt auf dem Mittelmeer und quer durch Europa illegal in der Schweiz gestrandet wie Ali, Asylbewerber wie Ali. Beide kaum Zukunft. An einem Novemberabend vor zwei Jahren begegneten sie sich auf dem Mühlesteg, der Fussgängerbrücke beim Central, wo Verliebte ihre Liebe symbolisch besiegeln mit Vorhängeschlössern, wie man sie zur Verriegelung von Kellerverschlägen benutzt. Aber auch Einsame treffen sich dort, um zwischenmenschliche Kontakte zu knüpfen.


Ali, ein Gewohnheitssäufer, hatte an diesem Abend bereits zehn grosse Bier, respektive 2,33 Promille intus, mit einer Bierdose in der Hand sprach er Khaled an und schnorrte eine Zigarette. Man wechselte ein paar Worte, Ali fragte Khaled, woher er stamme. «Aus Algerien», erzählte ihm dieser. «Besser als Tunesien», meinte Ali und schimpfte wüst über die Tunesier. Welche Worte es waren, erfährt man nicht, aber Schimpfwörter sind bekanntlich Glückssache. Denn Khaled ist gar nicht Algerier, sondern – Tunesier. Weshalb er dies nicht zu Beginn gesagt hatte, wird nicht klar. Doch obgleich er seine Staatsangehörigkeit verleugnet hatte, fühlte er sich in seiner Ehre verletzt. Zorn stieg in ihm hoch, so rasant und so heftig, dass er Ali einen Stoss versetzte. Das wiederum liess sich der Marokkaner nicht gefallen und zog nun erst recht über die Tunesier her, was Khaled wiederum aufs Blut reizte. Er schlug Ali die Bierdose auf die Nase, sodass dieser das Gleichgewicht verlor. Von Wut überwältigt wollte Khaled auf den am Boden liegenden treten, doch hielt ihn sein Kollege, ein Ägypter, zurück, der die explosive Szene mit Argusaugen beobachtet hatte.


Ali rappelte sich auf, zückte sein Messer mit der Gravur «Switzerland», stürmte auf Khaled zu und schlitzte ihm blitzschnell und mit Schwung die Kehle auf – 8 Zentimeter breit und 1 Zentimeter tief war der Halsschnitt. Beide hatten Glück, dass die Halsschlagader unversehrt blieb. Khaled wäre tot und Ali wegen vorsätzlicher Tötung angeklagt.


Obgleich Khaled blutete wie ein geschächtetes Schaf, rannte er dem flüchtenden Ali hinterher, brachte ihn zu Fall und traktierte seinen Kopf mit Stiefeltritten. Messer, Blut und andere Katastrophen – jemand griff zum Telefon. Polizei und Sanität kamen schnell. In einem separaten Verfahren wurde auch Khaled angeklagt, wo er jetzt ist, weiss man nicht.


«Wie gefällt Ihnen die Pöschwies?»
Ali sitzt seither in der Pöschwies ein. Wie es ihm da gefalle, will der Richter wissen. «Alles in Ordnung, dem Allmächtigen sei Dank», antwortet Ali und schaut ehrfürchtig nach oben zum Kronleuchter. Weshalb er überhaupt illegal in die Schweiz gereist sei, will der Richter wissen, denn neben versuchter Tötung war Ali auch wegen Vergehens gegen das Ausländergesetz verurteilt worden. «Ich suchte Arbeit», sagt der Mann, der gern Automechaniker geworden wäre. «Und weil ich erfuhr, dass ich hier nicht arbeiten darf und ich auch kein Geld hatte, beantragte ich Asyl.» Sein Gesuch wurde abgelehnt, nun hofft er auf baldige Weiterreise.


«Sieben Jahre Freiheitsstrafe ist zu viel», wiederholt Ali hastig und kämpferisch, als hätte er Angst, dass man ihn unterbricht, bevor alles erklärt ist. Es gibt viel zu erklären, aber zuerst einmal: «Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Der andere Mann hat mich entehrt.» Ob er sich bewusst sei, dass seine Berufung auch eine höhere Strafe bewirken könne, fragt der Richter. Ali schaut verblüfft aus dem Adidas-Anzug. Hat ihn sein Pflichtverteidiger nicht aufgeklärt oder hat er es nicht verstanden? Der Richter unterbricht die Verhandlung und gewährt Ali eine halbe Stunde Zeit für ein Rechtsgespräch mit seinem Anwalt.


In der Lobby mutmassen derweil Studenten der Rechtswissenschaft, ob der junge Pflichtverteidiger seinen Mandanten überzeugen werde, die Aussichtslosigkeit seines Begehrens einzusehen oder gleichwohl in Berufung zu gehen. Schliesslich verdiene der Anwalt an diesem Fall, je länger er dauert, desto mehr. Der Steuerzahler berappts. Wetten werden abgeschlossen. Nach einer Viertelstunde ruft der Gerichtsweibel den Staatsanwalt und das Publikum wieder in den Saal. Was hat Ali beschlossen? «Ich möchte die Berufung zurückziehen. Auch wenn die Strafe ungerecht ist.» Der Richter schliesst die Verhandlung. Ali wird wieder in Handschellen gelegt und ins Gefängnis Pöschwies transportiert.


* alle Namen geändert

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