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Reportage

Blick auf die Piazza Cella. Bild: H. Wehrli

Die Heimat der Exilitaliener

Von: Urs Hardegger

22. März 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Piazza Cella.

Wäre es nach dem Willen der Quartierbewohner gegangen, würde er Piazza Angelo heissen. Zur Erinnerung an den Türsteher, der 2008 beim Versuch, einen herumtobenden Ehemann zu beruhigen, erschossen wurde. Ein einzelnes Ereignis reichte der Stadt jedoch nicht für eine Ortsbezeichnung. So bekam das Plätzchen an der Langstrasse den Namen Piazza Cella. Damit ehre man Erminia Cella, die gute Seele des Cooperativo, und ihren Sohn, den Schauspieler und Regisseur Ettore Cella, stellvertretend für «die reiche Geschichte der italienischen Immigration».

Laut und aufbrausend

Tatsächlich prägte keine Einwanderergruppe die Kreise 4 und 5 so nachhaltig wie die italienische. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildete sie eine Kolonie, und es kam zu Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung. Die Art der Italiener empfand man als laut und aufbrausend und die italienischen Läden und Restaurants als Konkurrenz. Zwar blieben gewalttätige Auseinandersetzungen wie bei den dreitägigen Krawallen von 1896 die Ausnahme, aber Angst und Misstrauen prägten das Verhältnis zwischen den Einheimischen und den Zuwanderern. Man lebte mehr neben- als miteinander.

Ein Stück Heimat erlebten die Italiener im Restaurant Cooperativo, damals noch an der Militärstrasse. Es war Restaurant, Versammlungslokal und Bildungsstätte zugleich. Hier konnte man nicht nur günstig essen, man durfte sich ohne Konsumzwang aufhalten, Vorträge anhören und Zeitung lesen. Erhalten hat sich die Anekdote vom Redner, der vehement gegen die italienische Unsitte eintrat, bei jeder Streitigkeit das Messer zu zücken. Der Referent erhitzte damit die Gemüter derart, dass er beim Verlassen des Lokals niedergestochen wurde. Von 1935 bis 1952 führte Enrico Dezza mit seiner Frau Erminia Cella das «Coopi». Sie verstanden sich als politische Wirte, die Società ­Cooperativo Italiana Zurigo war Mitglied der italienischen Soziali­s­tischen Partei. Nach der Macht­übernahme Mussolinis in Italien wurde das Coopi zum Treffpunkt der Antifaschisten im Exil. Hier kümmerte man sich um Flüchtlinge aus Italien und besorgte ihnen Essen und Kleider. Auch nach dem Krieg blieb das Coopi – seit 2007 an der St. Jakobstrasse – ein Treffpunkt für die italienische und die schweizerische Linke.

Für immer «Papa Pizzani»

Erminias Sohn Ettore Cella (1913–2004) wuchs an der Langstrasse auf. Berühmt machte ihn seine Rolle als Papa Pizzani in Kurt Frühs Film «Bäckerei Zürrer» aus dem Jahre 1957. «Simer doch fröhlich, per la miseria, ische doch keiner Beärdigung», hörte man den temperamentvollen Gemüsehändler und Marronibrater im Film sagen: Cella wirkte an über 50 Filmprojekten mit, an der Langstrasse blieb er zeitlebens «Papa Pizzani». Noch in den 60er-, 70er-Jahren bestimmten Überfremdungsängste das politische Klima, bildete die italienische Kolonie weitgehend eine Parallelgesellschaft. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Die Secondos und Secondas haben sich assimiliert, mediterrane Lebensart, Italianità, ist Teil unseres eigenen Lebensgefühls geworden.

Die Piazza Cella gehört heute zum Herzstück der Ausgeh- und Vergnügungsmeile rund um die Langstrasse. Bis weit nach Mitternacht ist der Platz von Partygängern aus allen Nationen bevölkert. Randständige mischen sich darunter, Prostituierte und Kleindealer buhlen um Kundschaft. Wenn gegen Morgen die letzten Betrunkenen aus den Nachtclubs gespült werden, meidet man diesen Ort besser. Gewalt, Lärm und Abfall machen den Anwohnern zu schaffen. Das sind die Auswüchse der ausgelassenen, wilden und auch verruchten Urbanität, die seit jeher die Faszination dieses Quartiers ausgemacht hat.

Quellen:
Cella-Dezza, Ettore: Das Damoklesschwert. Zürich 2001.
Rieser, Eugen: Essen und Emigration. In: Kult Zürich Ausser Sihl. Zürich 2010.

Lesen Sie am 6.  April den Beitrag zur Hadlaubstrasse. 

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