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Reportage

Eine Prostituierte wartet am Sihlquai auf Kundschaft. Bald wird es hier keinen Strich mehr geben. Bild: Keystone/Elisabeth Real

Die letzten Frauen vom Sihlquai

Von: Jan Strobel

23. Juli 2013

In einem Monat nimmt der Strichplatz mit den Sexboxen seinen Betrieb auf. Damit endet die düstere Geschichte des Sihlquai-Strichs.

Was bedeutet Einsamkeit auf dem Strassenstrich am Sihlquai? Das
Alleinsein in einer Sommernacht mit schmerzenden Füssen, die in zu
kleinen High Heels stecken. Der müde Blick in die Scheinwerfer,
während der Wind die billigen Pailletten des Röckchens sanft bewegt. Der Ge­danke an die Familie, an die Kinder, die jetzt, vielleicht, friedlich schlafen in ihren Betten, zu Hause, irgend­wo an der slowakisch-ungarischen Grenze.

Das Alleinsein am Sihlquai, es zeigt sich in dieser Freitagnacht in der Frau Mitte zwanzig unter der Kornhausbrücke, die kaum stehen kann. Sie hat sich zu hohe Schuhe angeschafft, aber das macht die Kundschaft nur noch schärfer. Die Gruppe von bulligen Glatzköpfen lässt sie nicht entwischen. Sie umzingeln sie, gierig. Sie fassen sie an, einer nach dem anderen, schieben ihr sonnengelbes Kleidchen hoch, damit sie ihr Hinterteil begutachten können. Einer betatscht mit dicken Fingern grob das straffe Objekt der Begierde, bereit für seinen ganz privaten Porno, die Frau stolpert leicht. Aber sie lächelt in die Zürcher Nacht hinein. Wenn alles gut geht, kann sie aus diesen fünf Männern einiges herausholen. Ein Blowjob kostet am Sihlquai ab 50 Franken, sie könnte also mindestens 250 Franken erarbeiten. Wenn es härter zur Sache gehen sollte, würden vielleicht auch 400 oder 500 Franken drinliegen, ein weiterer Zustupf für die Familie oder zur Schuldentilgung. Und schliesslich muss auch die massiv überteuerte Unterkunft in Zürich bezahlt sein. Jede, die hier als sogenannte selbstständige Dienstleistungserbringerin mit dreimonatiger Arbeitsbewilligung arbeitet, legt ihre eigenen Preise fest, da gibt es prinzipiell nichts zu verhandeln für den Freier. Die meisten dieser selbstständigen Prostituierten verlassen die Stadt nach ein paar Wochen wieder, um irgendwo auf einem anderen Strich oder in einer Bar weiterzumachen.

Fahrt ins Ungewisse
Wenn, wie geplant, in vier Wochen die Sexboxen in Altstetten in Betrieb  genommen werden, wird sich nicht nur die Sicherheit der Prostituierten erhöhen, sondern auch gleich ein anderes fundamentales Problem gelöst. Am Sihlquai fehlt es an geeigneten Absteigen. Die Freier werden in Hinterhöfen oder im Auto bedient, eine Kontrolle gibt es nicht. Die Frauen begeben sich mit jedem Kunden ins dunkle Ungewisse. 

Beim Klublokal Provitreff entlässt gerade ein SUV eine torkelnde Brünette. Die anderen Prostituierten am Strassenrand empfangen sie mit freundschaftlichen Zurufen. Offenbar kennen sie den Mann, der mit seinem Wagen sofort wieder abdreht. «Ich habe dir gesagt, du sollst den nicht nehmen. Sicher nicht den», sagt eine in gebrochenem Deutsch zur immer noch leicht Benommenen. Fünf Meter daneben gehen die Verhandlungen mit anderen Kunden bereits weiter. Es sind junge Männer, kaum älter als zwanzig, die es jetzt einmal am Sihlquai versuchen wollen, sich den Kick zu geben.

Aus den Autos, die an der Szenerie vorbeifahren, werden die Frauen begutachtet, die Beine, die Brüste, eine Schau zwischen Lust und Schauer. Eine Strasse der männlichen Geilheit, auf der die Codes der Gesellschaft für kurze Zeit über Bord geworfen werden. Aus einem Autofenster landet eine Bierdose auf dem Trottoir.

Die meisten der Prostituierten auf dem Sihlquai sind heute Ungarinnen, Roma, die in ihrer Heimat in bitterster Armut leben. Besonders seit dem EU-Beitritt Ungarns 2004 treibt sie das Elend nach Mitteleuropa, in den schlimmsten Fällen in die gnadenlose Maschinerie des Frauenhandels. Die Politik in Ungarn selbst weigert sich, wenig überraschend, die prekäre Situation der Roma als Hauptursache anzuerkennen. Sie sieht sie vielmehr in der finanzkräftigen Nachfrage der Schweizer Kundschaft, welche die Frauen auf den Strich treibe.

Die Frau von der Kornhausbrücke ist mittlerweile verschwunden. Es wird kaum jemand nach ihr fragen. Eine Prostituierte hat schliesslich keine Geschichte zu haben.

Gemäss Stadtpolizei waren 2012 insgesamt 1292 neueingestiegene Prostituierte auf Stadtgebiet erfasst. Seit den letzten Jahren steigt die Zahl kontinuierlich. Eine letztjährige Umfrage der Stadt unter 120 Prostituierten ergab, dass 60 Prozent Kinder haben und die Hälfte in einer Beziehung lebt. Manche Prostituierte arbeitet bis zu 70 Stunden pro Woche am Sihlquai und bedient durchschnittlich sechs bis sieben Männer. Bis zu 60 Frauen schaffen pro Nacht am Sihlquai an. Seit die Bauarbeiten zum Swiss Mill Tower begonnen haben, drängen sich die Frauen auf einem relativ kurzen Abschnitt. Sozialarbeiter übten auch Kritik am Bericht der Stadt. Er übertreibe die Gewalt am Sihlquai. Zudem betonte die Fachstelle Frauenhandel, dass 80 Prozent der Sexarbeit weitgehend unbemerkt in Bordellen, Bars, privaten Wohnzimmern oder Hotels stattfinde, das Sihlquai also nicht per se als Sinnbild der Prostitution gelten könne. Den Strichplatz mit den Sexboxen in Altstetten bewerten Milieukenner als positive und wichtige Alternative zum Strassenstrich. Das Areal Depotweg soll am 26. August eröffnen. Zutritt gibt es nur mit dem Auto. Zusätzlich wird die Frauenberatungsstelle Flora Dora einen Betreuungspavillon erhalten.

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