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Reportage

Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf vom Verein Incontro: Als im vergangenen Jahr der Lockdown beschlossen wurde, organisierten sie eine Lebensmittelabgabe für Menschen in Zürich, die sich am Rand der Gesellschaft befinden. (Bild: PD)

Helfende Hände für die Vergessenen und Verdrängten

Von: Werner Schüepp

09. Februar 2021

Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf sind jeden Abend im Langstrassenquartier unterwegs. Seit Beginn der Corona-Krise kümmern sie sich im Zürcher «Chreis Cheib» um Drogensüchtige, Obdachlose und Prostituierte und bringen ihnen warme Mahlzeiten.

Zürich zeigt sich an diesem Samstag von seiner garstigen Seite: Ein kalter Wind bläst durch die Strassen, Dauerregen ist angesagt. Tropfen prasseln an die Fensterscheiben des «Primero Dios» im Kreis 4. Der Name ist spanisch und heisst: «Gott zuerst». Das kleine, gemütlich eingerichtete Lokal ist das Hauptquartier von Schwester Ariane, des von ihr gegründeten Vereins Incontro und der Freunde der Gemeinschaft Sant’Egidio.

Hier bespricht sie ihre Einsätze und bricht täglich mit Karl Wolf, Pfarrer in Küsnacht, zum Langstrassenquartier auf. Dort verteilen die beiden von 16.30 bis 20 Uhr mit Helferinnen und Helfern kostenlos Mahlzeiten sowie Säcke mit Grundnahrungsmitteln und Hygieneartikeln (gespendet von Firmen und Privaten) an Bedürftige, Randständige, Obdachlose und Prostituierte, die durch die Corona-Pandemie in Not geraten sind. «Heute haben wir 330 Mahlzeiten serviert», sagt Schwester Ariane, «trotz des nassen Wetters kamen erstaunlich viele Leute zu unserer Essensausgabe».

Die Corona-Krise hat auf der Gasse tiefe Spuren hinterlassen. Die Not hat sich seit dem ersten Lockdown deutlich verschärft. «Viele Leute sind am Limit, haben keine Kraft mehr. Sie sind er-schöpft, fallen in Depressionen und Verzweiflung», sagt Schwester Ariane. Sie wusste schon vor einem Jahr, dass Corona kein Kurzstreckenlauf wird, sondern ein Marathon. Und dass diese Pandemie die Menschen, die es ohnehin schon schwierig im Leben haben, in eine noch grössere Krise stürzen wird. Deshalb organisierte sie innert kürzester Zeit eine Lebensmittelabgabe.

«Wir sind ein kleiner Verein. Unsere Hilfe ist niederschwellig und sie wird das auch bleiben», erklärt Pfarrer Karl Wolf. Verlangt wird bei der Essenausgabe kein Ausweis, keine Papiere, keine Stempel. Was zählt, ist Flexibilität, schnelle, unbürokratische Hilfe. Ein Augenmerk richtet Schwester Ariane auf die Frauen aus dem Milieu. «Die Bordelle sind alle wegen Corona dicht. Die meisten Frauen sind verunsichert, haben häufig keine Ahnung, wie und von was sie nun weiterleben sollen», sagt sie. Berührungsängste kennt die 48-Jährige, die in ihrer Nonnenkutte unterwegs ist, keine. Sie fühlt sich den Menschen am Rand der Gesellschaft verbunden, hat für sie eine Botschaft: «Ihr seid nicht allein». Missionieren will sie nicht. Aber zeigen, dass Kirche durch gemeinschaftliche Fürsorglichkeit neue Lebendigkeit gewinnt.

Berufswunsch Nonne

Mit zwölf Jahren hat sich Ariane Stocklin, wie sie mit vollem Namen heisst, entschieden, Nonne zu werden, obwohl sie nicht sehr religiös aufgewachsen ist. Mit 19 war für sie klar, dass sie auf der Gasse arbeiten wollte. «Mein Bruder lebte einige Jahre selbst auf der Strasse, daher waren mir diese Menschen mit ihren Verwundungen schon früh nicht fremd.» Diese Zeit prägte sie tief. «Auf der Gasse – an den Rändern der Gesellschaft – zu arbeiten ist meine Berufung. Ich bin angekommen», sagt sie.
Ihr Projekt haben Ariane und Wolf vor drei Jahren gestartet, zu Beginn mit zehn Freiwilligen und praktisch ohne einen Rappen Geld. Heute können sie auf rund 500 Freiwillige zurückgreifen, die aus allen Berufssparten kommen. Sie sind unterschiedlichsten Alters, haben verschiedensten weltanschaulichen Hintergrund und stammen auch aus verschiedenen Religionen. Aus der Mitte der Gesellschaft wird hier Engagement und Zivilcourage gelebt.

Wenn immer Schwester Ariane und Pfarrer Wolf Provianttaschen ins Langstrassenquartier bringen, sind die Begegnungen von Freude bestimmt und manchmal sogar von Glück. Welchen Wert haben diese Begriffe für sie selber? «Für mich ist jeder Tag voller Glücksmomente», sagt sie, «ich freue mich täglich darauf, abends meine Freunde auf der Gasse zu sehen». Ihre Wärme, Dankbarkeit und Ehrlichkeit, alles Eigenschaften, die Schwester Ariane in der Gesellschaft mehr und mehr vermisst. «Für mich ist Glück ein Geschenk», sagt Pfarrer Wolf, «und Begegnungen mit interessanten Menschen». Glück heisst für die beiden auch, sich Zeit für andere Menschen nehmen, für sie da zu sein, ihnen zuzuhören und zu fragen, was sie brauchen.

Sie legen Wert darauf, jedem Einzelnen auf Augenhöhe und ohne Vorurteile zu begegnen. Für Schwester Ariane gibt es keine Gläubige und Ungläubige: «Jeder Mensch ist von Gott erschaffen und trägt die Liebe in sich». Ein Lieblingszitat der beiden stammt von dem Kirchenvater Irenäus: «Die Herrlichkeit Gottes ist der lebende Mensch; das Leben des Menschen die Gottesschau». (Irenäus von Lyon, Adversus Haereses IV, 20,7)

Zentrum ist die Arbeit auf der Gasse, wo die Corona-Krise in vollem Gang ist, Menschen ihre Arbeit verlieren und Depressionen zunehmen. Schwester Ariane und Pfarrer Wolf werden dort gebraucht.


Persönlicher Glücksmoment von Schwester Ariane

Erster Lockdown. Eine Frau kam zu mir: «Kannst du mir helfen? Ich habe nichts mehr». Wir gaben Antwort. Handelten. Ein Miteinander entstand. Tägliches Broken Bread: eine Abendmahlzeit für alle. Glück beginnt, wo wir mutig zur Not und zu Menschen stehen. Glück für viele.

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