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Reportage

Die Retter mit dem Blaulicht

Von: Clarissa Rohrbach

02. April 2013

Die Einsätze von Schutz & Rettung nehmen stetig zu. Das «Tagblatt» begleitete zwei Rettungssanitäter.

Die Frau am Boden röchelt, der Körper zuckt, die Augen sind geschlossen. Ihren Retter, Sandro Herren, den hört sie vermutlich bloss. «Was ist los? Haben Sie Schmerzen?», fragt der Rettungssanitäter in Ausbildung, der gerade mit seinem Kollegen Renatus Müller mit dem Rettungswagen im Shop-Ville angekommen ist. Die Frau spricht nicht. Am Gleis 43 schauen Passanten besorgt zu, wie Herren Puls und Blutdruck misst. «Sie ist kardiopulmonal stabil, es muss psychogen sein», informiert der 27-Jährige seinen Partner. Da die Frau sich bei der Einfahrt jedes Zuges krümmt, wissen die Profis: Sie ist psychisch «dekompensiert» und braucht jetzt Ruhe, eine Behandlung vor Ort würde nur zusätzlichen Stress bedeuten. Sie heben die Patientin auf die Liege und transportieren sie in den Rettungswagen. «Atmen Sie ruhig, ganz ruhig», Herren sitzt im hinteren Teil des Fahrzeugs, einer Mini-Intensivstation, die ­alles enthält, um einen Menschen am Leben zu halten: Defibrillator, Beatmungsgerät, Medikamente. Müller fährt Richtung Unispital, wo er die Patientin bereits angemeldet hat.

«Sie haben hyperventiliert, wie geht es Ihnen jetzt?» Herrens Stimme klingt warm und ermunternd, Effizienz wechselt sich mit Menschlichkeit ab. «Schon besser», die Frau hat sich beruhigt, eine Infusion ist nicht nötig. Sie nehme Psychopharmaka und sei lange in der Psychiatrie gewesen, weil ihr Ex-Mann ihr Leben zerstört habe. Sie arbeite erst seit einer Woche wieder, und es sei alles zu viel. Dann weint sie. Herren tröstet und stellt Fragen, um so viel wie möglich über ihre Vorgeschichte zu erfahren. Damit lässt sich wichtige Zeit sparen. «Ein Gespräch kann mehr bringen als Medikamente, es braucht gesunden Menschenverstand, nicht nur Hightech», meint er. Er habe diesen Job gewählt, weil er Menschen ­helfen wolle und man nie wisse, was passieren wird.

In die Pantoffeln

Nachdem sie die Patientin ins Unispital eingeliefert haben, desinfizieren sich die beiden die Hände und melden sich wieder einsatzbereit. Sie haben ihre zwölfstündige Schicht um 6.30 Uhr angefangen. Nun fahren sie zur Wache zurück, wo der Wagen wegen der vielen elektrischen Apparaturen ans Stromnetz angeschlossen sowie wieder aufgefüllt und geputzt wird. Herren wechselt aus seinen Sicherheitsschuhen mit Stahlkappe in Pantoffeln. Im Aufenthaltsraum sitzen Kollegen, trinken Kaffee und lesen Zeitschriften. Hinter ihnen stehen ein Töggelikasten und Liegen zum Ausruhen. Denn es gibt auch Wartezeiten. Am Tisch wird viel gelacht. «Jeder entwickelt seine Strategien, um den Stress zu bewältigen, ­Humor ist eine davon», erklärt Renatus Müller, der seit fünf Jahren dabei ist. Manchmal, da gebe es frustrierende Tage, an denen Personen sterben. Für besonders belastende Einsätze gibt es bei Schutz & Rettung ein eigenes Nachsorgeprogramm. «Klar, es sind immer Emotionen dabei, sonst würde etwas nicht stimmen.» Müller läuft an der Garderobe vorbei. Dort hat jeder einen Spind für seine Ausrüstung: Schutzbrille, Pfefferspray, Stethoskop. Auf Verlangen gibt es eine Schutzweste. «Immer mehr Rettungssanitäter fragen danach, sie fühlen sich unsicher, weil Beschimpfungen und Angriffe vor allem am Wochenende zugenommen haben.» Letztes Jahr gab es alleine in der Stadt 25 848 Einsätze. Über tausend mehr als im Vorjahr. Die Teams und Wagen sind auf drei Wachen aufgeteilt: Neumühlequai, Triemli und Flughafen. In der Spitzenzeit sind für Notfälle und geplante Transporte insgesamt 17  Fahrzeuge unterwegs.

Ein Messer in den Bauch

Müllers Pager piepst: Messerstecherei am Goldbrunnenplatz. Er lässt alles stehen und liegen, während sein Kollege angerannt kommt. Die Einsatzzentrale 144 hat den Fall in die oberste Dringlichkeitsstufe eingeordnet. Die beiden fahren los, der Bordcomputer zeigt bereits den Einsatzort an. Der Wagen fährt zügig mit Blaulicht und Wechselklanghorn. Das Rotlicht kann so mit der nötigen Vorsicht passiert werden. Für den 4,5 Tonnen schweren Wagen braucht es eine besondere Fahrberechtigung. Die Rettungssanitäter müssen spätestens innerhalb von 15 Minuten vor Ort sein.

Am Goldbrunnenplatz zieht Müller Schutzhandschuhe an. Er fragt die Polizisten, die den Tatort bereits abgesperrt haben, was passiert sei und ob die Lage sicher sei. Bei jedem Einsatz wechselt die Führung, diesmal ist es Müller. Dieser entscheidet über die Massnahmen und spricht den Patienten an. Das Opfer, ein älterer Herr, sitzt vor einem Bistro, auf dem Bauch eine Zeitung, darunter die Stichwunde. «Ich weiss, wer es war», sagt er seelenruhig. Den mutmasslichen Täter hat die Polizei bereits festgenommen. Müller stellt sich vor und bringt den Patienten sofort in den Rettungswagen. Dort geht er die Punkte der Patientenbeurteilung durch. Zuerst Atem und Kreislauf, dann Blutungsquellen und schliesslich geistiges Befinden. «Es ist wichtig, systematisch vorzugehen, damit wir nichts übersehen», erklärt Müller. Danach will er die Klinge des Messers sehen, um zu wissen, wie tief die Wunde sein könnte.

«Die vitalen Parameter sind gut, die müssen wir jetzt aufrechterhalten, jede Minute zählt.» Der Mann blutet zwar nicht, aber innere Verletzungen könnten lebensbedrohlich sein. Er bekommt zwei Infusionen, damit das Blutvolumen stabil bleibt, und ein starkes Schmerz­mittel. Im Rettungswagen werden alle Medikamente intravenös verabreicht, Pillen wirken zu langsam. Während Herren ins Triemli fährt, ist es hinten ruhig, der Patient will nicht reden. Müller schweigt. «Man muss sich jeder Person, jedem Charakter anpassen.»

Im Schockraum warten bereits zehn Personen: Chirurg, Neurologe, Anästhesist, Pfleger. Müller rapportiert die Lage, es muss schnell gehen. Falls er innerlich blutet, kann ihm nur noch der Chirurg helfen. Während das Spitalteam den Patienten entkleidet und abtastet, beharrt er auf seiner Unschuld. Er kommt in den Ultraschall, für Müller ist der Einsatz abgeschlossen. Draussen begrüssen er und Herren ihre Kollegen und gönnen sich einen Schwatz. Doch nicht für lange. Der Pager piepst wieder.

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