Reportage
Die Temperatur bestimmt das Geschlecht
Von: Alex Rübel
ZOO INTERN Zoodirektor Alex Rübel berichtet alle zwei Wochen über Neues oder Wissenswertes aus dem Tiergarten. Heute geht es um die Bruttemperatur bei Reptilien.
Gestern war Welttag der Schildkröten. Der Aktionstag will Sympathien für die ursprünglichen Reptilien wecken und auf die – zum Teil prekäre – Situation der Schildkröten in ihren natürlichen Lebensräumen aufmerksam machen. Im Zoo Zürich halten und züchten wir sechs verschiedene Schildkrötenarten (siehe Box). In der Haltung und Zucht der markanten Galapagos-Riesenschildkröte konnten wir uns dank zahlreicher Forschungsprojekte auf den Galapagosinseln und bei uns im Zoo über die Jahre als international gefragtes Kompetenzzentrum etablieren. Ausserhalb der Zuchtstationen auf den Galapagosinseln gibt es weltweit nur sehr wenige Zuchterfolge mit den Tieren. In Europa sind wir sogar die einzige Institution, die erfolgreich Galapagos-Riesenschildkröten züchtet. Seit 1989 sind über achtzig Tiere bei uns geschlüpft.
Eine Besonderheit bei Schildkröten ist die Entwicklung des Geschlechts. Bei uns Menschen bestimmen Chromosomen im Erbgut darüber, was wir werden. Unser Geschlecht ist also ab der ersten Zelle festgelegt. Bei Schildkröten hingegen verfügt die befruchtete Eizelle über keine Geschlechtschromosomen. Stattdessen entscheidet die Brutwärme darüber, ob am Ende ein Weibchen oder Männchen aus dem Ei schlüpft. Man nennt dies «temperaturabhängige Geschlechtsdetermination». Sie kommt nicht nur bei Schildkröten vor, sondern auch bei anderen Eier legenden Reptilien, etwa Krokodilen und Eidechsen.
Enzym ist der Schlüssel
Das Geschlecht der Schildkröte wird also von der Umgebungstemperatur bestimmt, in der sich das Ei während der Brut befindet. Möglich macht dies ein Enzym, das je nach Bruttemperatur das männliche Geschlechtshormon Testosteron in das weibliche Geschlechtshormon Östrogen umwandelt. Dabei gibt es innerhalb der Reptilienarten, deren Geschlecht durch Temperatur bestimmt wird, drei verschiedene Varianten:
– Hohe Temperaturen ergeben Weibchen, tiefe Temperaturen Männchen (z. B. bei vielen Schildkrötenarten).
– Hohe Temperaturen ergeben Männchen, tiefe Temperaturen Weibchen (z. B. bei den meisten Krokodilarten).
– Hohe und tiefe Temperaturen ergeben Weibchen, mittlere Temperaturen Männchen (z. B. bei Leopardgeckos, Schnappschildkröten).
Damit aus einem einzigen Gelege männliche wie weibliche Tiere schlüpfen, müssen innerhalb des Nests unterschiedliche Temperaturen herrschen. Möglich macht dies die Bauart. Galapagos-Riesenschildkröten etwa vergraben ihre Eier. Ein tiefer liegendes Ei hat dabei eine andere Umgebungstemperatur als ein Ei nahe an der Oberfläche.
Schildkröten im Zoo Zürich
Im Zoo Zürich können Sie sechs verschiedene Schildkrötenarten kennen lernen: die Galapagos- und die Aldabra-Riesenschildkröte, die beide über 200 kg schwer und über 100 Jahre alt werden können; die deutlich kleinere, aber ebenfalls sehr langlebige Glattrand-Gelenkschildkröte, die stark gefährdete Chinesische Zackenerdschildkröte sowie die Kinnfleck-Schmuckschildkröte und die Europäische Sumpfschildkröte, beide Vertreter der Neuwelt-Sumpfschildkröten.
Weitere Infos: www.zoo.ch
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