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Reportage

Bildnis von Gottfried Keller, eine Radierung des Berner Künstlers Karl Stauffer 1887.

Ein Dichter zwischen Scheitern und Welterfolg

Von: Isabella Seemann

14. Juli 2015

Gottfried Keller: Ein Stadtspaziergang auf den Spuren des grössten Zürcher Schriftstellers, der heute vor 125 Jahren gestorben ist.

Es war im Jahr 1819, als in der Stadt zwei Knaben geboren wurden, die dereinst als bedeutendste Zürcher in die Geschichte eingehen sollten. Der eine, im Februar, war Alfred Escher. Der andere, im Juli, Gottfried Keller. Nur einen Katzensprung voneinander entfernt, wuchsen sie auf, Escher am Hirschengraben, Keller im Niederdorf. Die Verhältnisse freilich hätten unterschiedlicher nicht sein können. Escher entstammte einer der mächtigsten Familien der Stadt, Gottfried Keller war Sohn eines Drechslermeisters. Am «Goldenen Winkel» am Neumarkt 27 verkündet heute eine Gedenktafel in schlichten Worten: «In diesem Hause wurde geboren Gottfried Keller, den 19. Juli 1819.» Wenig später konnte die Familie das Haus zur Sichel am Rindermarkt 9 erwerben, wo «Göpf» mehr als die Hälfte seines Lebens verbrachte.

Geistige Hinrichtung
Nach der Armenschule besuchte er die Kantonale Industrieschule, eine Vorläuferin des Gymnasiums Rämibühl, die er 15-jährig ohne Abschluss verlassen musste: Er hatte sich zum Mitmachen an einem Putsch gegen einen unbeliebten Rechenlehrer bewegen lassen und wurde prompt als Rädelsführer angesehen. Keller kam über dieses ungerechte Urteil nie hinweg, für ihn war der Schulausschluss wie eine geistige Hinrichtung. Dies und seine Vaterlosigkeit – Gottfried wurde fünfjährig zum Halbwaisen – machte er für seine lieblose und vertane Jugend verantwortlich und rechnete harsch damit ab in seinem grossartigen Roman «Der grüne Heinrich» – der heute zur Weltliteratur zählt.

Darin beleuchtet er auch sein Scheitern als Maler. Keller lehnte bürgerliche Berufe für sich entschieden ab und versuchte stattdessen, als Kunstmaler zu Ruhm und Ansehen zu gelangen. Diese Lebensplanung endete in einem finanziellen und persönlichen Desaster. Schon während seiner Lehre in der Kupferstecherwerkstatt Peter Steigers am Predigerplatz, wo er sich als billige Arbeitskraft verdingen und Aquarelle von Schweizer Ansichten für die Tourismusbranche herstellen musste, kamen ihm Zweifel an der Richtigkeit seiner Berufswahl. Doch noch einmal machte er einen Anlauf und reiste nach München, um die Kunstakademie zu besuchen. Dort lebte er unter ärmlichsten Verhältnissen, fand keine Käufer für seine Bilder und hungerte oft.

Tapfer ging Keller seinen Weg weiter und versuchte sich, mittlerweile zurück in Zürich, als Lyriker, vor allem mit politischen Gesängen, Streitschriften und Gedichten. Er bekannte sich zu den Idealen des liberalen Radikalismus und bekämpfte die ihm verhassten Reaktionäre, Aristokraten und Pfaffen.

Seine Schriften weckten die Aufmerksamkeit von Regierungsrat Alfred Escher, und dank seiner Fürsprache konnte er ein Volontariat an der Zürcher Staatskanzlei antreten. Escher ermöglichte ihm zudem ein Stipendium zur Weiterbildung in Heidelberg und danach die fünfjährige Tätigkeit als Schriftsteller in Berlin – leider war die Geldsumme schon nach der Hälfte der Zeit verbraucht. Just als die Zeit des blühenden jungen Bundesstaates und der Ära Escher voll angebrochen war, kehrte Keller abgebrannt in seine Heimatstadt zurück.

Geldsorgen und Schulden

Die alten grünen Pfade der Erinnerung an Gottfried Keller führen heute zum Central, in die Bank Schroder & Co., wo im Erdgeschoss eine Gedenkstätte eingerichtet wurde. «Es ist wohl eine Ironie der Geschichte, dass sich die Dauerausstellung über Gottfried Keller, der so viele Jahre seines Lebens grosse Geldsorgen hatte und Schulden anhäufte, ausgerechnet in einer Bank befindet», sagt Rainer Diederichs schalkhaft. Der ehemalige Präsident der Gottfried-Keller-Stiftung und ausserdem ehemalige Pressesprecher der Zentralbibliothek führt durch das kleine Museum und in Kellers Gedankenwelt ein. «Keller liebte seine Heimatstadt, den See, die Menschen und ihre Geschichten, doch er war auch sehr frustriert über Zürich», erklärt Diederichs. «Keller beklagte die materialistische Gesellschaft und die zügellose Eitelkeit. Geld, Geld, Geld sei alles, was zähle, Werte wie Pflichtbewusstsein hingegen gar nichts mehr. Das betrübte Keller sehr.» Für Diederichs ist insbesondere Kellers letztes Werk «Martin Salander», das er in Hottingen schrieb, denn auch ein Buch, das man unbedingt wieder zur Hand nehmen sollte, «weil es von bestechender Aktualität ist, obwohl es vor bald 130 Jahren geschrieben wurde».

1861 bewarb sich Keller als Erster Staatsschreiber um die bestbezahlte Beamtenstelle des Kantons Zürich – und wurde prompt gewählt. 15 Jahre verbrachte er als äusserst gewissenhafter und fleissiger Beamter auf seiner Kanzlei an der Kirchgasse 33. Endlich hatte er Ansehen und ein einträgliches Amt gefunden.

Noch zu Lebzeiten war er von Anekdoten umrankt, die ihn als kauziges Stadtoriginal charakterisierten. So soll er eines Nachts einmal mehr betrunken durch die Altstadtgassen gewankt sein, als er den nächstbesten Passanten fragte, ob er wisse, wo Gottfried Keller wohne. Dieser antwortete eingeschüchtert: «Aber Herr Staatsschreiber, das sind Sie doch selber.» Worauf Keller aufbrausend erwiderte: «Das weiss ich auch, dass ich der Gottfried Keller bin, aber ich habe Sie nicht gefragt, wer ich bin, sondern wo ich wohne!» Weit weniger heiter tönt jener Satz, den Keller als recht Vereinsamter über sich selber schrieb: «Ich bin kein Löwe, sondern ein kleiner, dicker Kerl, der abends um neun Uhr ins Wirtshaus und um Mitternacht zu Bette geht als alter Jung­geselle.» Zwei Versuche, eine Ehe zu gründen, misslangen. Ein bequemer Zeitgenosse war Gottfried Keller zu keiner Zeit. Eigensinnig, schweigsam und trotzig, aber mit scharfer Beobachtungsgabe, unabhängigem Urteil, virtuosem Sprachvermögen und dem Talent zur Freundschaft, so beschrieben ihn Zeitgenossen wie Conrad Ferdinand Meyer, Johanna Spyri oder Ricarda Huch. Kellers dichterische Produktion erfuhr nach dem Amtsrücktritt im Jahr 1876 – nota bene ohne Pension – eine erneute Blüte. Er zog ins Obere Bürgli in der Enge und setzte mit den «Züricher Novellen» seiner Heimatstadt ein dauerndes Denkmal. Als Gottfried Keller am 15. Juli 1890 starb, so trauerten die Zürcher, «starb unser Dichter».

Kellers Geburtshaus: Das Haus Zum goldenen Winkel, Neumarkt 27.

Das Haus zur Sichel, Rindermarkt 9. Hier lebte Gottfried Keller von 1821 bis 1848.

Von 1875 bis 1882 erlebte Keller im Oberen Bürgli seine glücklichste Zeit.

Kinderzeichnung des 10-jährigen Gottfried Keller: Knabe mit Vögeln in einem Wald.

Das Haus Thaleck in Hottingen, Zeltweg 27. Kellers letzte Wozhnung. Der Dichter bewohnte von 1882 bis 1890 eine Fünfzimmerwohnung im ersten Stock.

Rainer Diederichs, ehemaliger Präsident der Gottfried Keller-Stiftung, vor Kellers Pult, das in der Daueraustellung am Central 2 zu besichtigen ist.Bilder: BEL/PD


Veranstaltungshinweise: 13. und 18. August, jeweils 15 Uhr: Manfred Papst über Gottfried Keller als Briefschreiber. In der ständigen Gottfried-Keller-Ausstellung in der Bank Schroder, Central 2, 8001 Zürich.
www.gottfriedkeller-gesellschaft.ch
24. September, 18 Uhr: Vernissage des Bilderbuchs von Doris Lecher «Spiegel, das Kätzchen. Nach einer Novelle von Gottfried Keller», im GZ Hottingen.

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