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Reportage

Die Nansenstrasse führt im Zentrum Oerlikons am Marktplatz vorbei. Bild: H. Wehrli

Ein Menschenfreund mit cleveren Zügen

Von: Urs Hardegger

22. September 2015

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Nansenstrasse.

«Wer das Zentrum kontrolliert, beherrscht das Spielgeschehen», erklärt der alte Herr neben mir auf der Bank, der seit Stunden den Bodenschachspielern zuschaut und jeden Zug kritisch kommentiert. Wie Schachfiguren wurden auch Millionen von Menschen im Ersten Weltkrieg hin und her geschoben, Kriegsgefangene, Flüchtlinge und Vertriebene. Nach dem Krieg warteten sie darauf – irgendwo an den Rand gedrängt –, endlich wieder zurückzukehren oder eine neue Heimat zu erhalten. Es fehlte an allem: Geld, Nahrung, Kleider und Transportmöglichkeiten. Aber auch am Willen der Regierungen und am Mitgefühl der Menschen. Einem war ihr Schicksal nicht gleichgültig: Fridtjof Nansen (1861–1930), dem Hochkommissar für Flüchtlinge des Völkerbundes. Nie vorher sei er mit «einem so entsetzlichen Übermass von Elend in Berührung gekommen», schrieb er in einem Bericht, in dem er zum Handeln aufforderte.

Wichtiges Dokument

Wo sich im Herzen Oerlikons die Nansenstrasse mit dem Marktplatz vereint, drängen auch die «Randfiguren» ins Zentrum zurück. Eine melodiöse Sprache dringt an mein Ohr. Das sei Tigrinisch, eine semitische Sprache, die in Eritrea gesprochen werde, lasse ich mich von ein paar jungen Männern mit einem Energy Drink in der Hand belehren. «Wie guet mach ichs?», will ein Zweijähriger auf der Schaukel von seinem Vater wissen. Ältere Männer, die ich einem arabischen Land zu­ordne, begrüssen sich mit einem speziellen Ritual: Händedruck, Kopf aneinander und einen kur­zen Stoss.

Mit der Ruhe und Beharrlichkeit eines Schachspielers ging Nansen an seine Arbeit. Als grösstes Problem erwies sich die Staatenlosigkeit. Niemand wollte beispielsweise die eineinhalb Millionen Russen, die vor den Wirren der bolschewistischen Revolution geflohen waren. Überall waren sie unerwünscht und überflüssig. Es war ein cleverer Schachzug, dass er die Staaten­losen mit einem Ausweis ausstattete, dem sogenannten Nansen-Pass. Dieser gab ihnen ein Stück Identität und Würde zurück und erleichterte die Heimführungs- und Verteilungsarbeit. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg sollte der Nansen-Pass zum wichtigsten Dokument für staatenlose Flüchtlinge und Emigranten werden.

Der Willensmensch Nansen war ein genialer Stratege und Organisator. Sein kleiner humanitä­rer Organisationsapparat arbeitete so effizient, dass eine der grössten Rückführungs- und Umsiedlungsaktionen der Geschichte das Budget des Völkerbunds kaum belastete. Für seinen zweiten Einsatz, die Unterstützung der hungerleidenden Bevölkerung in Russland, erhielt er ein paar Jahre später den Friedensnobelpreis. Gelernt hat der Norweger das Planungshandwerk auf seinen Polarexpeditionen, mit denen er weltweit für Aufsehen gesorgt hatte. Auch in der Ozeanografie und Polarkunde erwarb er sich grosse Verdienste.

In der Tat, ich sitze an einer speziellen Strasse. Wäre sie nicht angeschrieben, würde ich die unterschiedlichen Teile kaum als Ganzes erkennen. Sie ist ja auch einem vielseitigen Menschen gewidmet, einem der handeln wollte, ehe es zu spät war. Seine humane Grundhaltung könnte uns auch in aktuellen Debatten noch als Richtschnur dienen. «Schachmatt», meint mein Banknachbar triumphierend, «ich hätte es ihm vorhersagen können.»

Quellen:
Sörensen, Jon: Fridtjof Nansens Saga, Hamburg 1939.
Wartenweiler, Fritz: Fridtjof Nansen. Erlenbach 1932.

Lesen Sie am 21. Oktober 2015 den Beitrag zur Schipfe.

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