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Reportage

Blick auf den Fritz-Brupbacher-Platz in Wiedikon. Bild: Helena Wehrli

Ein Platz für einen Unangepassten

Von: Urs Hardegger

26. Mai 2015

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt in einer Serie jede zweite Woche eine solche Story. Heute: der Fritz-Brupbacher-Platz.

«Her mit dem schönen Leben!», fordert das Plakat eines Authorised ­Reseller, dessen Schaufenster zum Fritz-Brupbacher-Platz in Wiedikon zeigt. Ein Ausspruch unserer Zeit. Dennoch hätte er die Zustimmung des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher (1874–1945) gefunden. Die Aussage hätte für ihn allerdings eine viel existenziellere Bedeutung gehabt. Denn was der Arzt damals im Arbeiterquartier antraf, war weit davon entfernt: «Es war zum Kopfschütteln», schrieb er in seinen Memoiren, «wenn man den dicken Bauch der schwangeren Frau eines Handlangers sah, die schon ein halbes Dutzend Kinder hatte, die unterernährt, rachitisch, skrophulös waren, wo die Familie sowieso schon von der Fürsorge betreut werden musste, da der Lohn des Mannes nicht ausreichte.» Ohne die Lösung der «sozialen Frage» war ein schönes Leben nicht denkbar. In erster Linie mussten die prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Arbeiterschaft verbessert werden.

Keine Angst vor heiklen Themen

Brupbacher war ein Nonkonformist, der überall aneckte. Weil er das Tabuthema Verhütung aufs Tapet brachte, boykottierte ihn der Hebammen­verein, und die Sittlichkeitsvereine verlangten ein Verbot seiner Vorträge; da er mit seiner anarchistischen Grundausrichtung kein stromlinien­förmiger Parteigenosse war, wurde er sowohl aus der Sozialdemokratischen wie auch der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Trotzdem war der Vortragsredner Publizist, Politiker und Arzt der Armen eine der interessantesten und anregendsten Persönlichkeiten der Zürcher Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bleibt die Frage, was er eigentlich anstrebte: Er war ein konsequenter Kämpfer gegen jegliche Hierarchien und Dogmen, träumte von autonomen Individuen, die ihre Geschicke selber bestimmen, und einer Welt, in der die Ressourcen gerecht verteilt sind. Niemand soll herrschen oder sich beherrschen lassen müssen, könnte sein Vermächtnis lauten.

Genau genommen ist der Kiesplatz an der Verzweigung der West-, Gertrud- und Sihlfeldstrasse nur ein halber Platz. Die andere Hälfte, ein Kinderspielplatz auf der anderen Seite der ­Gertrudstrasse, ist seiner letzten Frau Paulette Brupbacher-Raygrodski gewidmet. Brupbachers Platz hat die Form eines Trapezes, kaum fünfzig Meter lang. Sitzbänke, Tische und Schatten spendende Bäume unterstreichen den Begegnungscharakter des Platzes. Eingedeckt mit Büchern und Notebook, setze ich mich an einen der Tische, geniesse die warme Frühlingssonne und beginne, den Platz mit all meinen Sinnen in Besitz zu nehmen. Auf einem Balkon räkelt sich eine Frau in der Sonne, von einem angrenzenden Restaurant schnappe ich Gesprächsfetzen einer mir unbekannten Sprache auf und atme den süsslichen Duft des Tabaks eines pfeifenrauchenden Arbeiters ein, der eine Pause einlegt.

«Geldadel ist Gift für die Demokratie», heisst es auf einem Transparent, das am Geländer eines Balkons hängt. «Richtig», würde Brupbacher ausrufen, wenn er hier sässe. Diese Gelegenheit zur Volksaufklärung würde er sich nicht entgehen lassen: Weder Herkunft noch Geldbesitz rechtfertigen Sonderrechte. Doch der Mensch ist auch ein geistiges Wesen. Man benötigt Bildung, um autoritäre Machtstrukturen zu untergraben, aber auch Leidenschaft, Hingabe und Fantasie müssen entwickelt sein, damit sich die Menschen von ihren Fesseln befreien können.

Gute Wahl der Stadtbehörden

Gut möglich auch, dass Brupbacher schallend gelacht hätte über die Absurdität, dass ausgerechnet das politische Establishment, das er andauernd mit Hohn und Spott bedacht hatte, ihn 2009 mit einem (Halb-)Platz beehrte. Allerdings – das müsste wohl auch er zugeben – hat die Stadtbehörde mit diesem kleinen, aber feinen Begegnungsort eine gute Wahl getroffen.

Quellen:
Fritz Brupbacher : Der Sinn des Lebens. Zürich 1946. Ich log so wenig als möglich. Zürich 1973.

Lesen Sie am 10. Juni den Beitrag zur Schaffhauserstrasse.

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