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Reportage

Die Kunstgalerie Lokal 14 an der Anna-Heer-Strasse. Bild: Helena Wehrli

Eine Dienerin an der Gemeinschaft

Von: Urs Hardegger

12. Mai 2015

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt in einer Serie jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Anna-Heer-Strasse.

Mit Anna Heers (1863–1918) frühem Tod sei ein von «mütterlicher Gesinnung und mütterlichem Tun» beseeltes Leben zu Ende gegangen, notierte die «Zürcher Wochen-Chronik» im Nachruf. Was als Lob gedacht war, brachte das Dilemma bürgerlicher Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Punkt: Gesellschaftliche Anerkennung ausserhalb des Hauses fand nur, wer die eigenen Bedürfnisse zurückstellte, auf eigene Ehe und Kinder verzichtete, um im Gesundheitswesen oder der Fürsorge der Gesellschaft zu dienen.

Selbstlos dem Wohl der andern zu dienen, kennzeichnete auch das Leben der Ärztin Anna Heer. Ihr hohes An­sehen verdiente sie sich mit einer Leistung, die man sonst «nur robuster Manneskraft zutraut». Zwar löste eine Frau, die um 1880 Medizin studierte, noch vielerorts Kopfschütteln aus, doch mit dem Ausbau des Sozial- und Gesundheitswesens zu Beginn des 20. Jahrhunderts war für die Frauen die Zeit reif, sich neue Tätigkeitsfelder zu erkämpfen.

Heimat des FC Unterstrass

In Erinnerung gehalten wird Heers Namen durch eine Quartierstrasse auf dem Milchbuckhügel. Weitab vom Verkehrslärm finden hier Wohnen, Freizeit und Kultur zusammen. Entlang der leicht gebogenen Strasse erstrecken sich Siedlungen mit günstigem Wohnraum. Für Betrieb sorgen die fussballbegeisterten Kids auf dem Sportplatz Steinkluppe. Leider ist der Platz auf den städtischen Fussballanlagen knapp geworden. Längst kann der FC Unterstrass nicht mehr alle interessierten Knaben und Mädchen aufnehmen, vor einiger Zeit musste er gar einen unbefristeten Aufnahmestopp verhängen.

An ein anderes Publikum wendet sich der Grafiker und Künstler Michael Nitsch mit seinem Kunstraum ­Lokal 14. Er bietet in seinen Räumen interessanten Künstlern und Künstlerinnen Gelegenheit für Werksausstellungen und Interventionen. Mit seinem Konzept gelang es Nitsch in wenigen Jahren, sich in der Zürcher Kunstszene einen Namen zu machen.

Andere Zeiten, andere Probleme. Freizeit und Kultur wären für Anna Heer Luxusthemen gewesen, existenziellere Fragen beschäftigten sie: eine erschreckend hohe Säuglingssterblichkeit in der Unterschicht und eine Pflegeausbildung, die im Argen lag, weil sie noch immer stark vom Diakonie- und Kongregationswesen geprägt war. Es brauchte eine zeitgemässe Ausbildung und Institutionen, in denen die Mütter während Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit fachgerechte medizinische Betreuung und hygienische Aufklärung erhielten.

Im Jahr 1901 ­gelang es, mit der   ­Eröffnung der Schweizerischen Pflegerinnenschule oberhalb des Römerhofs beide Anliegen zu verwirklichen. Treibende Kraft dahinter waren Anna Heer und der Schweizerische Gemeinnützige Frauenverein. Anna Heer wurde als erste Frau – auch dies ein Novum – leitende Ärztin des Spitals. Als Frauenrechtlerin kann man Anna Heer trotzdem nicht bezeichnen. Sie betonte eher die Pflichten als die Rechte der Frau. Zeitweise arbeitete sie bis zu 20 Stunden täglich. Zu ihrem selbstlosen Leben passte auch ihr Tod. Sie starb an einer Blutvergiftung, die sie sich bei einer Operation zugezogen hatte.

Das Ende eines Lebenswerks

Im Rahmen der kantonalen Spitalplanung wurde die Pflegerinnenschule 1998 aus Kostengründen geschlossen. Ein Federstrich genügte, um Heers Lebenswerk zum Verschwinden zu bringen. Waren am Ende alle Anstrengungen vergeblich, die sie und ihre Mitkämpferinnen geleistet hatten? Nein, denn trotz allem darf ihr Beitrag für die Verbesserung der medizinischen Grundversorgung wie auch der gesellschaftlichen Stellung der Frau nicht unterschätzt werden.

Quellen:
Sylvia Baumann Kurer: Die Gründung der Schweizerischen Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich 1901 und ihre Chefärztin Anna Heer. Zürich 1990. Sammlung von Nachrufen über Anna Heer in der Bibliothek des Medizin­historischen Instituts.

Lesen Sie am 27.  Mai den Beitrag zum Fritz-Brupbacher-Platz.

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