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Reportage

Eine Familie in zwei Welten

Von: Ginger Hebel

17. Oktober 2017

Maja Klemm Pitsch fing sich in ihrer Schwangerschaft ein Virus ein, mit schwerwiegenden Folgen für ihr ungeborenes Kind. Heute ist Luan acht Jahre alt, gehörlos und kann nicht sprechen.

Luan rennt auf der Wiese seinem Drachen nach. Seine Mutter Maja Klemm Pitsch ruft ihn, doch er hört sie nicht und rennt lachend weiter. Der Achtjährige ist hochgradig schwerhörig. Normalerweise trägt er Hörgeräte, doch manchmal stören sie ihn in den Ohren. «Zu Hause nimmt er sie reflexartig raus und taucht ein in seine eigene Welt», sagt seine Mutter.

Maja Klemm Pitsch und ihr Mann Daniel sind schon lange ein Paar. Für beide war klar, dass sie eines Tages Kinder haben und eine Familie gründen würden. In ihrer zweiten Schwangerschaft hatte sie sich ein Virus eingefangen, fühlte sich matt und erschöpft, doch nie hätte sie gedacht, dass die Erkrankung Konsequenzen für ihr ungeborenes Kind haben könnte. Wie sich später herausstellte, litt sie an einer Zytomegalie, einer Herpes-Variante, die – anders als Herpes-Lippenbläschen – besonders für ungeborene Babys zum Risiko werden kann. Allerdings nur dann, wenn die werdende Mutter während der Schwangerschaft zum ersten Mal mit dem Virus in Kontakt kommt.

Luan kam vermeintlich gesund zur Welt. Anders als sein grosser Bruder war er kein Schreibaby, «es war sehr unkompliziert mit ihm», erzählt Maja Klemm Pitsch. Doch als er nicht zu gehen anfing und auch nicht auf das gesprochene Wort reagierte, machten sich die ­­Eltern Sorgen. Die Zytomegalie-Infektion entdeckten Ärzte bei Luan erst, als er eineinhalb Jahre alt war. Die Diagnose zog den Eltern den Boden unter den Füssen weg. «Im ersten Moment fühlt man sich einfach nur sehr allein und weiss nicht, wo man sich Unterstützung holen und an wen man sich wenden soll», sagen sie. Diese Ungewissheit stellte auch ihre Ehe auf eine harte Probe.

Luan ist bis heute taub und hat partielle Lähmungen. Er kann sich nicht selbstständig anziehen, sich nicht selber die Zähne putzen und nicht sprechen. Mimik und Gebärden Mama und Papa leben in der einen, ihr Kind in einer anderen Welt. Maja und Daniel Pitsch – beide Lehrer in der Stadt Zürich – mussten zuerst die Gebärdensprache erlernen, um mit ihrem Sohn kommunizieren zu können. «Es war, als würden wir noch eine Fremdsprache lernen.» Noch beherrschen sie nicht alle Gebärden, aber die Mimik und Gestik, sagen sie, passiere oft intuitiv, daher klappe die Verständigung gut. Auch Luan beherrscht die Gebärdensprache. Er besucht das Zentrum für Gehör und Sprache in Wollishofen und lebt tageweise in der dortigen Wohngruppe. Die Sonderschule ist für die Familie ein Glücksfall, in ihren Augen gar lebensnotwendig. Er wird dort individuell gefördert, bekommt Physio- und Ergotherapien und hat Kontakt mit anderen gehörlosen und hörbeeinträchtigten Kindern. «Er ist ein glückliches Kind», sagt seine Mutter.

Der zehnjährige Meron muss manchmal etwas zurückstecken, wenn sein kleiner Bruder nach Hause kommt, denn dieser braucht viel Aufmerksamkeit, man kann ihn kaum aus den Augen lassen. Meron ist manchmal traurig, er ­hätte gern einen gesunden Bruder, mit dem er normal spielen und reden könnte. Gelegentlich ärgert er sich über ihn, wenn er ihm Hilfe ­anbietet, Luan sie aber nicht ­annehmen will und aus Protest Gegenstände auf den Boden wirft, «manchmal wird er richtig hässig», sagt Meron. Luan ist sehr feinfühlig. Wenn Leute zu Besuch kommen, streckt er ihnen sofort die Hand entgegen. Er schaut den Menschen in die Augen und fixiert ihre Lippen, um sie zu verstehen. Luan löst sich aus der Umarmung seiner Mutter und rennt ­wieder seinem Drachen nach. Meron rennt mit.

Tag der offenen Tür

Im Zentrum für Gehör und Sprache in Wollishofen werden über 400 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit einer Hör- und/oder Sprachbeeinträchtigung geschult, gefördert und betreut. 1826 wurde der erste gehörlose Schüler, Ulrich Steffen, probehalber aufgenommen. Ein Jahr später erfolgte der definitive Beschluss zur Führung der Blinden- und Taub­stummenanstalt. Heute werden in der Tagessonderschule 70 Kinder unterrichtet, 25 wohnen in speziellen Wohngruppen.

Der audiopädagogische Dienst, der hörbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche in der Integration im ganzen Kanton begleitet, feiert dieses Jahr sein 30-Jahr-Jubiläum. Am Samstag, 28. Oktober, findet von 10 bis 16 Uhr erstmals ein Tag der offenen Tür statt. Es gibt geführte Rundgänge, Darbietungen in Gebärdensprache, Hörtests, Attraktionen für Kinder und Foodstände.

Ort: Frohalpstrasse 78. Anreise mit ÖV empfohlen. Haltestelle Verenastrasse.

www.zgsz.ch

 

 

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