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Reportage

Die Pestalozzistrasse, gewidmet dem Pädagogen, der von 1796 an kurz auf der «Platte» gewohnt hat. Bild: H. Wehrli

Eine Strasse für den Lehrer der Nation

Von: Urs Hardegger

08. September 2015

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Pestalozzistrasse.

Problemlos würden sich in der Schweiz drei Dutzend Ortschaften finden lassen, die dem berühmten Pädagogen eine Strasse gewidmet oder ein Denkmal errichtet haben. In seiner Geburtsstadt Zürich thront seit 1899 seine Bronzeskulptur – einen Knaben an der Hand führend – im Park zwischen Bahnhofstrasse und Globus. Richtig, Sie wissen es, es handelt sich um ­Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827).

«Seine» Strasse führt am Rande des Universitätsviertels vom Careum zum Kinderspital. Obwohl das Wohnen dominiert, prägen Bildung und Gesundheitspflege die unscheinbare Einbahnstrasse und machen dem Namensgeber alle Ehre. Auf dem Boden des ehemaligen Rotkreuzspitals bildet das Careum 1700 Studierende und Lernende für die Gesundheitsberufe aus. Überregionale Bedeutung hat auch das Kinderspital am anderen Strassenende. Neben der ambulanten und stationären Pflege von Kindern und Jugendlichen werden Ärzte und Pflegende in Kindermedizin und Kinderchirurgie ausgebildet. Dazwischen haben sich verschiedene universitäre Einrichtungen etabliert.

Mit Kopf, Herz und Hand

Bildung war natürlich auch Pestalozzis Thema, «sittliche Elementarbildung» nannte er es. Als Quelle des Elends betrachtete er den Mangel an einer Grundausbildung, denn diese bilde die Voraussetzung, dass sich ein Land sittlich und wirtschaftlich entwickle. Wie er sich diese dachte, skizzierte er in «Lienhard und Gertrud»: Die Erziehung soll idealerweise in der Familie in enger Verbindung von Arbeit und Schule stattfinden. Die Schule braucht es nur, wenn die Familie dies nicht gewährleisten kann, wie dies damals bei den Kindern der Baumwollspinner der Fall war. Noch heute dient seine – zumeist auf das Motto «Kopf, Herz und Hand» reduzierte – Erziehungslehre zur Begründung der vielfältigsten Unterrichtsformen.

So weit die Theorie. In der Praxis war Pestalozzi weit weniger erfolgreich. Mit seinen Projekten auf dem Neuhof bei Birr und dem Waisenhaus in Stans erlitt er Schiffbruch. Da brauchte es die tatkräftige Unterstützung seiner Ehefrau Anna Schulthess, die ihn nach solchen Fehlschlägen wieder aufrichtete. Sie stammte aus einer der angesehensten Zürcher Patrizierfamilien und gab dem Träumer die Bodenhaftung und das finanzielle Fundament für seine Experimente.

Während der Helvetik (1798–1803) wollte die junge Republik dringend ein besseres Schulsystem errichten. Deshalb zählte der eidgenössische Bildungsminister Albert Stapfer zu Pestalozzis grössten Förderern. Seine Schulversuche in Burgdorf, Münchenbuchsee und Yverdon entwickelten sich trotz weiterer Rückschläge nach und nach zu Publikumsmagneten. Die «Methode», die er in seinem Buch «Wie Gertrud ihre Kinder lehrt» populär machte, wurde zeitweise geradezu als Königsweg der Didaktik gepriesen. Dies, obschon deren Erfolge äusserst bescheiden waren.

All diese Fehlschläge taten seiner Verehrung, die sich im 19. Jahrhundert zu einem wahren Nationalkult entwickelte, keinen Abbruch. Das labile Staatsgefüge und insbesondere die sich entwickelnde Volksschule brauchten Helden und Vorbilder. Kaum eine Festrede oder eine Schulhauseinweihung, an der nicht Pestalozzi als «Gründer der Volksschule», «Waisenhausvater», «grandioser Methodiker» oder «genialer Publizist» gefeiert wurde.

Was bleibt vom Armenerzieher und Publizisten? Hoffen wir mehr als die verbreitete Redewendung «Ich bi doch nöd de Pestalozzi!». Als Visionär, der sich nach persönlichen, finanziellen und ideologischen Krisen immer wieder aufrichtete und sich mit aller Kraft für das Volkswohl einsetzte, hat er seine Bedeutung nicht verloren.

Quellen:
Pestalozzi, Heinrich: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Bad Heilbrunn 1994.
Tröhler, Daniel: Johann Heinrich Pestalozzi. Göttingen 2008.

Lesen Sie am 23. September 2015 den Beitrag zur Nansenstrasse.

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