Reportage

Drehort Klassenlager: Karma Abetso (13) und Estella Menzi (14) überprüfen nochmals die Einstellung einer Szene. Bild: SB
Filmen, frieren und sich foppen
Von: Sacha Beuth
KLASSENLAGER Eine Woche ohne Eltern, selbst kochen und putzen, kleine Wanderungen machen – für Schülerinnen und Schüler ist ein Klassenlager Herausforderung und Abenteuer zugleich. Wie ein Besuch der Sek 2A des Schulhauses Riedhalden im Klöntal zeigt, tun sich nicht alle leicht mit den veränderten Umständen.
Ein Campingplatz, ein türkisblauer See, nebelverhangene Berge, ein paar schmucke Holzhäuser, das leise Rauschen eines Wasserfalls und Kuhglockengeläut. Morgens um 9 Uhr ist die Umgebung des Ferienheims Plätz im Glarner Klöntal Idylle pur. Drinnen dagegen herrscht bereits rege Betriebsamkeit. Die 21 Schülerinnen und Schüler der Sek 2A des Schulhauses Riedhalden, die im malerischen Gebäude ihr Klassenlager verbringen, gehen ihren «Ämtli» nach. Sie flitzen durch die Gänge, räumen die Tische ab, waschen das Geschirr vom Frühstück ab und putzen WCs und Duschen. «Derlei Aufgaben gehören dazu. Sie helfen den Schülern, selbstständiger zu werden. Ausserdem sollen die Jugendlichen merken, dass es bei einem Lager nicht um Ferien, sondern um eine besondere Schulaktivität handelt, zu der auch schulische Aufgaben gehören», erklärt Klassenlehrerin Nicole Inglin.
Das grosse Lagerprojekt der 2A sind eigene Kurzfilme zum Thema Sucht. Noch während des Deutschunterrichts in Zürich wurden die Drehbücher geschrieben, nun gehts in Gruppen im und ums Ferienheim ans Filmen und anschliessend auf die Zimmer, wo die Sequenzen auf den Laptops geschnitten, mit Musik unterlegt und mit Texteinschüben ergänzt werden. Die Gruppe um Regisseur Sasha Gamba braucht noch eine Szene, in der die Hauptdarstellerin Isabella Stadelmann, die eine Zuckersüchtige spielt, losrennt, um einen Bus zu erwischen. Da es noch etwas dauert, bis dieser eintrifft, wird die Wartezeit professionell zum Drehen anderer Einstellungen genutzt.
Derweil bespricht sich an der Tür zum Ferienheim Karma Abetso, Regisseurin für das Thema Kokain, mit ihrer Kamerafrau Estella Menzi. Die beiden sind mit den Nerven am Ende (oder geben es zumindest vor). Stein des Anstosses ist Freddy Bayona, der das Leiterteam um Inglin und Koch André Kuhn verstärkt. Bayona soll einen Zürcher Polizisten spielen. Nur, der gebürtige Kolumbianer und Hortmitarbeiter im Riedhalden, spricht kaum Deutsch und verhaspelt sich immer wieder, was zwar zur allgemeinen Erheiterung führt, die Szene jedoch unbrauchbar macht. Im fünften Anlauf klappts aber doch.
Kreatives Mittagessen
Inzwischen ist es Mittag geworden. Inglin beordert alle zum Lunch in den Speisesaal, indem sie auf den Recorder drückt und überlaut Musik abspielt. Zu essen gibt es dieses Mal gemischten Salat, Chnoblibrot, Toast, Aufschnitt und Pommes frites aus dem Backofen, die vom Vorabend übrig geblieben sind. Die Jugendlichen beschmieren und belegen eifrig ihre Sandwiches, wobei sie sich mindestens so kreativ wie beim Filmdreh zeigen.
Was denn jetzt so ihr Eindruck vom Lager sei, will der Journalist nach dem Mahl wissen. «Also mir gefällt es sehr hier. Ich vermisse einzig meine Lieblings-Cornflakes zum Frühstück», erzählt Isabella Stadelmann, während ihr Kamerad Cem Frick anfügt: «Wenn man 24 Stunden zusammen ist, dann lernt man sich noch besser kennen. Und mal so ganz ohne Eltern ist auch nicht schlecht. Aber dass wir unsere Handys pro Tag nur wenig benützen dürfen und der Empfang zudem so schlecht ist, das ist schon ein Problem.» Inglin hörts und schmunzelt. Tatsächlich sei für die Mehrzahl der Jugendlichen das Handy ein unersetzliches Objekt, gerade um sich täglich mit ihrem Zuhause, aber auch untereinander auszutauschen. «Mir ist aber wichtig, dass die Kinder sich bewegen und selbst zusammen etwas unternehmen und nicht immer durch elektronische Geräte abgelenkt werden. Darum habe ich die Handys zwar nicht verboten, die Nutzungszeit aber auf täglich eineinhalb Stunden am Abend begrenzt.»
Für Lidia Dinis Fernandes nicht so schlimm: «Ich finde das Lager mega gut, und wir haben viel Spass miteinander. Auch die Tagwacht um 7.15 Uhr ist kein Problem. Nur schade, dass es hier oben so kalt ist.» Ihre Gspäändli nicken zustimmend und betonen, fast jeder hätte in den ersten Tagen gefroren. «Kommt hinzu, dass es nur wenig warmes Wasser zum Duschen gibt. Für alle reichts nicht», ergänzt Kilian Seiz.
Der guten Stimmung tut dies jedoch keinen Abbruch. Mehr Sorgen löst ein anderer Umstand aus, den nicht nur Inglin, sondern alle Lehrpersonen in der Schweiz plagt, die ein Klassenlager planen: das laufend kleiner werdende Budget. «Generell wird immer mehr gespart (siehe auch Box, die Red.). Ich muss mir dreimal überlegen, ob das Geld für die geplanten Aktivitäten – dieses Mal sind es ein Nacht-OL, zwei Wanderungen, T-Shirts bedrucken, der Besuch einer Pizzeria in Glarus und ein Lagerfeuerabend – reicht. Zum Glück konnte ich Kameras, Stative und Laptops dank persönlicher Kontakte gratis ausleihen. Sonst wäre das Budget noch mehr belastet worden.» Nicht zu vergessen der Aufwand, den ein Klassenlager mit sich bringe. «Um ein Klassenlager vorzubereiten, brauche ich rund eine Woche und das auch nur, weil ich mit meinen Klassen immer ins Klöntal gehe und Umgebung und Anlaufstellen gut kenne. Theoretisch sind diese Arbeiten Teil der 58-h-Wochenarbeitszeit einer Lehrperson. In der Praxis ist es unbezahlter Mehraufwand.» Und dann ist da noch die Verantwortung: «Du musst rund um die Uhr aufpassen, dass nichts passiert.»
Während ein Teil der Schüler wieder die Projektarbeit aufnimmt und weiter am Filmschnitt arbeitet (und dabei auf die Hilfe des gelernten Cutters und Kameramanns Bayona zählen kann), macht sich der Rest zusammen mit Nicole Inglin auf zu einer Schnitzeljagd. Um 17 Uhr dürfen dann endlich die Handys aus der Verwahrungskiste geholt werden. Das Küchenteam jedoch hat erst noch seinen Job zu erledigen. Unter der Leitung von André Kuhn, der mit einer Engelsgeduld Vorgehensweise und Handgriffe erklärt, wird Popcorn in der Pfanne gebraten und werden Kuchen und Pizzas gebacken. Dass gelegentlich etwas schiefläuft, das Eigelb ins Eiweiss fällt und der Pizzaboden etwas ungleichmässig daherkommt, gehört dazu und wird genutzt, um sich gegenseitig zu foppen. Doch spätestens wenn die Küchenmannschaft eineinhalb Stunden später strahlend ihre Werke präsentiert, sind alle Missgeschicke vergessen. Auch Nicole Inglin lächelt. «Ein Klassenlager macht einfach Freude. Es wäre sehr schade, wenn dies kommende Generationen aus Kostengründen nicht mehr erleben könnten.»
Immer weniger Schullager
Genaue Zahlen liegen noch keine vor, jedoch gibt es einige Indizien, dass in der Schweiz immer weniger Klassen- und auch Skilager durchgeführt werden. So haben einerseits die Reservationen der 5000 Lagerhäuser von Groups, der Branchenorganisation der Schweizer Lagerhäuser, in diesem Jahr um 20 Prozent abgenommen. Andererseits sind gemäss dem Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH immer weniger Lehrkräfte bereit, ein Lager durchzuführen. «Das liegt jedoch nicht am mangelnden Interesse der Lehrkräfte, sondern ist den Umständen geschuldet», betont LCH-Zentralsekretärin Franziska Peterhans. «Für ein Lager betreiben die Lehrpersonen einen enormen Zusatzaufwand, der insbesondere wegen rechtlicher und sicherheitstechnischer Aspekte viel grösser ist als noch vor 20, 30 Jahren.» Bei den Skilagern komme noch hinzu, dass es immer schwieriger würde, eine Unterkunft zu finden und dass das Interesse am Skisport seitens der Schüler immer mehr nachlasse. «Die Hauptursache ist jedoch die Unsicherheit wegen der immer knapperen finanziellen Mittel.» Viele Gemeinden sind unter Spardruck. Davon ist nicht selten auch das Budget für die Schulen betroffen. Dort wird dann gestrichen, wo es am wenigsten schmerzt: bei den Lagern. Zumal etwa im Kanton Zürich keine Pflicht für Schulen und Lehrkräfte besteht, Lager durchzuführen. Einen Zustupf vom Kanton für die Lager gibt es ebenfalls nicht: «Der Kanton Zürich hat keine gesetzliche Grundlage und damit keine Möglichkeit, einzelne Projekte wie z. B. Klassenlager finanziell zu unterstützen», erklärt Brigitte Mühlemann, stellvertretende Amtschefin bei Volksschulamt. Kommt hinzu, dass nach einem Bundesgerichtsentscheid auch der Beitrag der Eltern für die auswärtige Verpflegung ihrer Kinder 16 Franken pro Tag nicht überschreiten sollte. Die Krux daran ist allerdings der Wortlaut des Entscheids: «Der maximal zulässige Betrag dürfte sich abhängig vom Alter des Kindes zwischen 10 und 16 Franken pro Tag bewegen.» Dies interpretiert man beim Volksschulamt des Kantons Zürich als ungefähren Rahmen und behält die eigene Verfügung bei, die pro Kind maximal 22 Franken Verpflegungskosten pro Tag vorsieht. Für die Zürcher Lehrkräfte verbessert dies die Kostenproblematik wenn überhaupt nur geringfügig. Denn wie das Volksschulamt schreibt, dürfe der Maximalbeitrag keinesfalls überschritten werden und vor allem nicht für andere Zwecke – etwa Fahrkosten oder Materialien – verwendet werden. Die Situation zu verbessern, obliegt grundsätzlich den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern. Sie haben es in der Hand, an den Gemeindeversammlungen ein Budget für die Schulen zu sprechen, welches diesen auch weiterhin die Durchführung von Lagern ermöglicht.
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