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Reportage

August-Forel-Strasse mit der 1930 erbauten Tennishalle des Grasshopper Club Zürich. Bild: H. Wehrli

Für den Abstinenzler voller Widersprüche

Von: Urs Hardegger

12. Januar 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die August-Forel-Strasse.

Das geschieht selten. August Forel (1848–1931) war erst wenige Monate tot, als man bereits eine Strasse nach ihm benannte. Zweifellos war man stolz auf den berühmten Waadtländer, der in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli am Balgristhügel über 20 Jahre gewirkt hatte. Die schmale Quartierstrasse entlang der Klinik trägt seinen Namen. Zumindest unter Tennisspielenden ist das unscheinbare Strässchen ein Begriff: An ihr befindet sich die älteste Tennishalle der Stadt.

Mit Ameisen fing es an

Wie kaum ein anderer verkörperte der Psychiater und Forscher Forel den Wissenschaftsoptimismus um die Wende zum 20. Jahrhundert. Bereits mit sieben Jahren begann er seine Ameisenstudien, noch während des Medizinstudiums pirschte er mit Ameisensäcken und Schmetterlingsnetzen durch Zürichs Strassen. Nach Aufenthalten in Deutschland wurde er mit 31 Jahren zum Leiter der «Irrenanstalt Burghölzli» und zum Ordinarius an der Universität gewählt. Er habe seine Studenten mitgerissen, jede seiner Vorlesungen sei ein Fest gewesen, erinnerte sich ein ehemaliger Assistent.

Es war kaum der saure und teure Zürcher Wein, wie Forel scherzhaft erzählte, der ihn abstinent werden liess. Der Bekämpfung des weit verbreiteten Alkoholismus hatten sich damals viele Organisationen verschrieben. Forel stand in diesem Kampf bald an vorderster Front und machte ihn zu seiner wichtigsten Lebensaufgabe. Die von ihm gegründete «Trinkerheilanstalt» in Ellikon trägt bis heute seinen Namen.

International Furore machte 1905 sein Werk «Die sexuelle Frage», in dem Forel – völlig neu in seiner Zeit – das Thema umfassend abhandelte. Seine Forderungen nach völliger Gleichberechtigung der Geschlechter, nach Straffreiheit des Konkubinats, freier Verfügbarkeit von Empfängnisverhütungsmitteln und der Zulassung von Abtreibungen in Fällen der Notzucht waren geradezu revolutionär. Die Reaktionen blieben nicht aus. Als eine «sittliche Verirrung», die «aus den Sumpfniederungen des Fleisches» aufgestiegen sei, kanzelte zum Beispiel der Pfarrer am Fraumünster Forels wissenschaftliche Abhandlung ab.

«Höherwertiger» Mensch

Auch wenn Forel in vielem fortschrittlich dachte, blieb er im Zeitgeist verhaftet. Als Verfechter der Degenerationstheorie glaubte er, dass Alkoholismus und Geisteskrankheiten vererbt würden und «zur Entartung und Verarmung» eines Volkes führten. Um zu verhindern, dass dem gesunden Teil des Volkes Kräfte entzogen würden, wollte er mit gezielter Empfängnisverhütung und Sterilisationen der «natürlichen Zuchtwahl des Menschen» nachhelfen. Mit einem eugenisch verbesserten, «höherwertigen» Menschen glaubte er, eine harmonisch geordnete Gesellschaft zu verwirklichen. Eine gefährliche Theorie, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts beweist. Auch in der Schweiz führte dieses Konzept zu zahlreichen fragwürdigen Eheverboten und Sterilisationen von geistig Behinderten und Randständigen. Der gleichen Logik entsprach es, dass er Schwarze als «geistig minderwertig» und nicht «kulturfähig» betrachtete. Natürlich stand er damals mit dieser Auffassung nicht allein da.

Forel war eine widersprüchliche Person. Auf vielen Gebieten leistete der Sozialist und Pazifist Grosses. Aber darf ein Mensch mit rassistischen Anschauungen mit einer Strasse geehrt werden? «Ehrungen sind Ausdruck einer bestimmten Zeit» und hätten somit einen historischen Wert, begründete die Stadt ihre Ablehnung eines Umbenennungsantrags. Als Zeitzeugen seien Strassennamen auch eine Einladung, sich mit den Verdiensten und Irrtümern einer Person auseinanderzusetzen. Diese Einladung habe ich mit diesem Beitrag gerne angenommen.

Quellen:
Forel, August: Die sexuelle Frage. München 1924.
Universität Zürich: August Forel. Zürich 1986.

Lesen Sie am 27. Januar den Beitrag zum Regina-Kägi-Hof.

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