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Reportage

Letztes Jahr verzeichnete der Pfuusbus fast 4500 Übernachtungen, und auch in diesem Winter sind meist alle Matratzen im Einsatz. Bild: Nicolas Y. Aebi

Geborgenheit im Lastwagen

Von: Sibylle Ambs-Keller

27. Dezember 2016

Die Nächte in Zürich können kalt sein. Im Pfuusbus von Pfarrer Sieber finden Randständige nicht nur einen Platz zum Schlafen. Eine Mahlzeit und ein warmes Willkommen von Herzen gibts obendrauf.

Es ist kurz vor sechs Uhr abends an diesem Dienstag im Dezember. Die Nacht ist bereits hereingebrochen, und die Temperaturen sind entsprechend tief gesunken.

Christian Klaus macht einen letzten Kontrollgang über den Platz vor dem Pfuusbus von Pfarrer Ernst Sieber oben im Zürcher Albisgüetli. Als Platzwart ist er nicht nur mitverantwortlich für die Infrastruktur und die Sauberkeit auf dem Areal, er kontrolliert auch die Lebensmittelvorräte, bringt die Schlafsäcke und Decken in die Reinigung und erledigt kleine Reparaturen. Jetzt, kurz vor Eintreffen der ersten Gäste – so werden die Bewohner und Bewohnerinnen des Pfuusbus vom freiwilligen Personal hier genannt –, wirft Christian Klaus einen letzten Blick in den Vorratscontainer: «Wir bekommen jeden Tag Kleider und Lebensmittel von Familien, Firmen, Vereinen und Clubs. Die Spendefreudigkeit der Zürcher ist auch dieses Jahr grossartig.»

Klaus muss es wissen: Er arbeitet seit Jahren für Pfarrer Ernst Sieber. «Die ersten zehn Jahre war ich ehrenamtlich tätig, seit 2015 bin ich angestellt. Ich arbeite von November bis April hier im Pfuusbus. Das Pensum ist eigentlich 50 Prozent, aber wir haben keine Arbeitszeiterfassung. Wenn es mich braucht, bin ich da.» Für den gläubigen Christen ist es eine wertvolle Erfahrung, Menschen in schwierigen ­Lebenssituationen ein Stück auf ihrem Weg begleiten zu dürfen.

Matratzen und Fleischkäse

Inzwischen ist es fast 19 Uhr. In Kürze öffnen sich die Türen des Pfuusbus. Die Ersten sind schon da und warten geduldig draussen vor dem knallpinkfarbenen Vorzelt, bis Hüttenwart This Waldesbühl sie hereinbittet. Seit letztem Jahr werden die Gäste elektronisch erfasst. Sie müssen beim Eintreffen Namen und Geburtsdatum angeben. Während sich This Waldesbühl vor dem Computer installiert legt Christian Klaus noch schnell letzte Hand an und hilft, die 35 Matratzen im Vorzelt des Busses zu verteilen. Auch das Küchenteam in der Bus-Kombüse ist im Endspurt: Heute gibt es heissen Fleischkäse, Spinat und einen Salat für die hungrigen Gäste. Auch hier: alles Freiwillige, die regelmässig für Einsätze zur Verfügung stehen.

Eine von ihnen ist Claudia Antonini. Die Zahnärztin leistet regelmässig Küchendienst: «Ich koche privat sehr gerne. Natürlich ist es hier etwas anders. Wir bereiten jeden Abend Essen für bis zu 45 Leute zu.» Heute steht Claudia zusammen mit Susi Witzig in der Küche, die zum allerersten Mal im Bus hinter dem Herd steht. Trotz der engen Platzverhältnisse arbeitet das Team Hand in Hand und ist sich nur selten gegenseitig im Weg.

Künstler mit Rollkoffer

Einer der Ersten, die sich nach der Registrierung häuslich einrichten, ist Ridvan Karatas. Mit geübter Hand verstaut er seinen Rollkoffer unter der Treppe, die in den Bus hinaufführt, und geht wieder nach draussen. Ridvan ist eine auffällige Erscheinung mit seinem langen Mantel, dem Ranger-Hut und den blauen Turnschuhen: «Ich werde oft angesprochen und gefragt, ob ich fotografiert werden darf», lacht der gebürtige Türke aus Istanbul. In den Pfuusbus kommt er seit ungefähr einem Monat regelmässig jede Nacht. Weil er zu den ruhigen Schläfern gehört, darf er eine der kleinen, fix eingerichteten Schlafkojen oben im Bus benutzen.

Die unregelmässigen Gäste und diejenigen, die nachts oft aufstehen, schlafen unten im Vorzelt auf den Matratzen. «Ich bin froh um meinen Schlafplatz. Ich habe eine warme Decke, etwas zu essen, und die Stimmung hier im Bus ist immer friedlich.»

Karatas ist seit rund drei Monaten obdachlos. Seine Wohnung wurde ihm wegen Eigenbedarfs gekündigt – seither ist er auf der Suche. Der 53-Jährige ist eigentlich Künstler, doch zurzeit hat er auch kein Atelier, wo er seine Specksteinskulpturen anfertigen könnte. «Die Wohnungssuche gestaltet sich nicht ganz einfach, vor allem nicht im Dezember», erzählt er. So ist der Pfuusbus für ihn eine vor­übergehende Lösung während der kalten Nächte. Und wie sehen die Tage aus? «Ich mache dies und das», antwortet er ausweichend und fuchtelt ein bisschen mit den Händen. Konkreter wird er nicht. Dann drückt er die Zigarette aus, verstaut seine Bierdose an einem sicheren Platz und geht hinein an die Wärme.

Striktes Rauchverbot

Ridvan Karatas ist einer von rund 40 Gästen an diesem Abend. Mit ihnen hat er eines gemeinsam: Er hat kein Dach über dem Kopf heute Nacht. Wie und warum jeder von ihnen schliesslich den Weg in den Pfuusbus gefunden hat, diese Gründe sind so unterschiedlich wie die Gesichter, in die man hier blickt. Jeder der vorwiegend männlichen Besucher hat eine andere Geschichte. Die Gäste hier kommen mit Rollkoffer oder Sport­tasche oder ganz ohne Gepäck. Einige suchen sich eine Matratze, ziehen die Schuhe aus oder auch nicht und legen sich gleich hin.

Andere setzen sich gerne an den grossen Tisch in der Küche oder auf die Holzbank im Vorzelt und unterhalten sich mit den anderen. Wieder andere verschwinden immer wieder nach draussen, zum Rauchen oder vielleicht auch um Drogen zu konsumieren. Im Zelt und im Bus herrscht striktes Rauch- und Suchtmittelverbot. Ein paar kommen auch nur, um etwas Warmes zu essen, und gehen danach wieder. Was aber auffällt: Die Stimmung ist friedlich. Wer nicht reden will, wird in Ruhe gelassen. Wer nicht gut zu Fuss ist, dem wird ein Teller mit Essen gebracht. Wer schlafen will, den lässt man. Wenn die Matratzen auf dem Boden nicht ausreichen, werden noch mehr geholt.

Eine Träne zum Abschied

Wir treffen noch einmal auf Platzwart Christian Klaus. Normalerweise hat er gegen 19 Uhr Feierabend, heute wurde es etwas später. Was ist die Motivation für seinen Einsatz, den er Jahr für Jahr von November bis April hier im Pfuusbus leistet?

Christian Klaus lächelt und meint: «Vor ein, zwei Jahren kam jemand und spendete uns Winterschuhe. Nigelnagelneue, die Preisschilder waren noch dran! Einer unserer Gäste sass dort drüben auf der Treppe und hatte seine kaputten Schuhe ausgezogen und die neuen anprobiert. Als er mich sah, fragte er, ob ich auch ein paar neue Schuhe bekomme. Ich antwortete ihm, meine seien noch gut in Schuss und ausserdem hätte es bestimmt keine in Grösse 39. Nach einer Weile kam der Gast wieder zu mir, mit ein paar neuen Winterschuhen, ungefähr Grösse 44. Vorne in die Schuhspitzen hat er Papierschnipsel gesteckt, mich angestrahlt und gesagt: Jetzt hast du auch ein paar neue Schuhe. Solche Geschichten sind es, die mich hierbehalten und für die ich jedes Jahr wiederkomme.» Und, so erzählt Christian Klaus weiter, im April steht jeweils das gesamte Team der Freiwilligen auf dem Parkplatz und winkt dem Bus hinterher, der in die Sommerpause fährt. Und dabei habe schon der eine oder andere Tränen in den Augenwinkeln.

Ein Platz im Pfuusbus

Seit 2002 erhalten obdachlose Menschen im Pfuusbus von Pfarrer Sieber ein Dach über dem Kopf, zu essen und die Möglichkeit, engagierten Helfern ihr Herz auszuschütten und mit ihnen nach Lösungen ihrer akutesten Probleme zu suchen. Der Pfuusbus ist ein Angebot für Menschen ab 18 Jahren, die in Not geraten sind und keine Schlafmöglichkeit haben. Von Mitte November bis Mitte April ist der Bus täglich von 19 Uhr bis 9 Uhr morgens offen und betreut. Das Angebot ist gratis. Dank dem Einsatz von engagierten Freiwilligen und Zivis werden die Besucher betreut und erhalten eine warme Mahlzeit, eine Matratze und warme Decken sowie ein Zmorge.
Weitere Informationen: www.pfuusbus.ch

3 Fragen an This Waldesbühl

Seit wann engagieren Sie sich als Hüttenwart im Pfuusbus?

This Waldesbühl: Für mich ist es die zweite Saison. Ich habe mir vorher lange überlegt, wie ich mich sozial engagieren könnte. Ich bin ein privilegierter Mensch und wollte etwas für andere tun, nicht einfach Geld spenden. Dass ich beim Pfuusbus gelandet bin, war eher zufällig. Nach einer Einführung absolvierte ich dann meinen ersten Dienst zusammen mit einem erfahrenen Hüttenwart. Wir sind immer zu zweit hier.

Hatten Sie Erwartungen oder Ängste vor Ihrem ersten Einsatz?

Ich bin ohne jegliche Erwartungen oder Vorurteile gekommen. Ich bin von Natur aus nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Das ist hilf- reich in der Position als Hüttenwart. Anderseits kommt es auch immer darauf an, wie man mit den Leuten umgeht – so kommt es dann zurück. Das Wichtigste hier ist: Es muss Frieden herrschen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Pfuusbus?

Für die Gäste und für uns wäre es schön, wenn sich die Spenden nicht im Dezember ballen würden. Im Januar, Februar, März und April sind wir genauso auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen und freuen uns über jede Gabe, die entbehrt werden kann. SIB This Waldesbühl ist Hüttenwart im Pfuusbus im Albisgüetli.

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