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Reportage

«Fühlen Sie sich zu kleinen Mädchen hingezogen?», fragt der Richter. Der Angeklagte bleibt stumm. Bild: PD

Gerichtsfall: Wenn der liebe Onkel zum bösen Täter wird

Von: Isabella Seemann

07. November 2013

Es spricht nicht viel für den Angeklagten. Schicksalsergeben sitzt er auf der Anklagebank, von der Halbglatze fallen Hautschüppchen aufs braune T-Shirt, die viel zu langen Hosen falten sich über den abgelaufenen Schuhen wie ein Akkordeon. Sein Blick irrt durch die flaschenbodendicken Gläser seiner Hornbrille im Leeren umher, er war alkoholkrank, ist einschlägig vorbestraft wegen sexueller Nötigung (wildfremden Frauen griff er zwischen die Beine).

Der Psychiater attestiert ihm eine verminderte verbale Intelligenz, seine Sätze kommen wie zäher Brei. «Weiss au nöd», antwortet Hans Huber* auf die Frage des Richters, was er mit seiner Berufung bezwecke. «Freispruch wegen Vergewaltigung und Einstellung des Verfahrens wegen sexueller Handlungen mit Kindern infolge Verjährung», wirft sein Pflichtverteidiger ein. Huber war vom Bezirksgericht der sexuellen Handlungen mit Kindern verurteilt worden. Auch die Staatsanwältin zieht das erstinstanzliche Urteil ans Obergericht weiter. Sie will Huber wegen Vergewaltigung von Kindern verurteilt sehen.

«Du musst keine Angst haben»
Weihnachten vor 15 Jahren verbrachte Herr Huber, wie alle Weihnachten, bei seiner Schwester und ihrer Familie in Zürich. Wie gewohnt war er betrunken. Betrunken ging er ins Kinderzimmer, zerrte seine achtjährige Nichte Susi aufs Bett, küsste sie im Nacken, berührte sie zuerst über den Kleidern, dann darunter, knetete ihre Brüste und griff ihr zwischen die Beine. «Du musst keine Angst haben», sagte er, «das ist ganz normal.»

Im Jahr darauf, es war wieder Weihnachten und er war wieder betrunken, fing er das Mädchen im Keller ab, zog seine eigene Hose und Unterhose runter – so stellt es die Staatsanwaltschaft dar – und drang schliesslich mit dem Penis in die Vagina des Mädchens ein. Es war nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. «Du musst keine Angst haben», sagte er, «das ist ganz normal.»

Für Susi aber wollte sich die Normalität bis heute nicht wieder einstellen. Sie befindet sich wegen einer Borderline-Erkrankung in der psychiatrischen Klinik. Erst durch die Therapie schaffte sie es, die 15 Jahre zurückliegenden Vorfälle in Worte zu fassen und ihren Onkel im vorvorigen Jahr anzuzeigen. Die sexuellen Handlungen hatte Huber nach anfänglichem Bestreiten bei der polizeilichen Einvernahme zugegeben, die Vergewaltigung bestritt er stets.

«Ich habe einen Seich gemacht», sagt er, und ringt sich dann durch zu einem «die Schuld liegt bei mir». Wäre ja noch schöner, wenn er das Gegenteil behauptete, aber insgeheim sucht er nach Ent-Schuldung, sein Deutungsversuch: die Alkoholsucht. Er schüttete Schnaps und Bier in sich hinein. War er genügend berauscht, geilte er sich an dem Mädchen auf.

«Fühlen Sie sich zu kleinen Mädchen hingezogen?», fragt der Richter. Hans Huber bleibt stumm. Zum Verständnis seines Charakters kann auch das psychologische Gutachten wenig Erhellendes beitragen: Seine dominante Mutter habe ein rigides, wenig herzliches Familiensystem geführt. Statt aufzubegehren, habe er sich unterworfen. Der 48-jährige Mann konnte sich nie von seiner Mutter lösen, lebte immer mit ihr zusammen. Intime oder auch nur freundschaftliche Kontakte zu anderen Frauen hatte er bis heute nicht.

Teilnahmslos hört er sich die Anschuldigungen an, als ginge ihn das alles gar nichts an. Die Hauptverhandlung besteht in der Folge denn auch hauptsächlich aus Rechtsgesprächen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung.

«Wieso sollte die Geschädigte ausgerechnet die Vergewaltigung erfinden, wo sie die sexuellen Handlungen detailliert und glaubwürdig wiedergab, wie auch der Angeklagte zugibt?», gibt die Staatsanwältin zu bedenken. Sie wirft dem gelernten Schreiner vor, das Vertrauen der Kinder und der Familie ausgenutzt zu haben: «Die Kinder waren Ihnen anvertraut und Ihnen schutzlos ausgeliefert.» Das Plädoyer des Verteidigers zielt darauf, die Aussagen der Borderlinerin Susi als unglaubwürdig hinzustellen. Borderlinerinnen gelten als wenig wahrheitsliebende Zeuginnen, sie sind manipulativ und hoch suggestibel und neigen dazu, sich mit allerhand Erfundenem interessant zu machen. «Mit acht Jahren haben Mädchen noch keine Brüste», also habe sein Mandant diese auch nicht «kneten» können, wie die Geschädigte zu Protokoll gegeben habe, sagt der Verteidiger.

Auch vom Vater missbraucht?
Das Obergericht hält sich an das erstinstanzliche Urteil: eine bedingte Freiheitsstrafe von 14 Monaten wegen sexueller Handlungen mit Kindern und ein Freispruch von der Vergewaltigung. Die Geschädigte habe während der Untersuchung ausgesagt, dass sie auch von ihrem Vater missbraucht worden sei, weshalb nicht ausgeschlossen sei, dass das Opfer real Erlebtes mit einer falschen Person verknüpft habe.

Hans Huber hatte sein Opfer um ein Gespräch gebeten. Daran habe es kein Interesse. Die Familie erteilte ihm ein Kontaktverbot. Er verlässt den Saal, wie er gekommen ist: schicksalsergeben. Zu Hause erwartet ihn niemand. Die Mutter ist kürzlich gestorben.

* alle Namen geändert

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