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Reportage

Eine Frage aus bewegten Zeiten, die zugleich eine Forderung ist.

"Ihr Pöstler, lest nicht immer unsere Postkarten"

Von: Isabella Seemann

23. April 2018

Als sich die Zürcher Jugendbewegung in Gang setzte und auf Betonwände ihre Parolen sprayte, legte die Staatsschutz-Abteilung der Stadtpolizei eine Kartei namens «Schmieren/Kleben» an. Eine neue Publikation zeigt eine beeindruckende Sammlung dieser Tatortbilder. Von Isabella Seemann

Sind Harald Naegelis Sprayfiguren grosse Kunst oder profane Schmierereien? Im Zürich der 1970er- und 1980er-Jahre war der Fall glasklar: Die vom «Sprayer von Zürich» im September 1977 erstmals im Schutze der Dunkelheit schwungvoll an Mauern und Wände gesprühten Figuren galten als Vandalismus. Für ihn selbst war es ein Protest gegen die «Unwirtlichkeit der Städte». Kurz zuvor begann das Kriminalkommissariat III, die Staatsschutz-Abteilung der Stadtpolizei Zürich, eine Kartei unter dem Titel «Schmieren/Kleben» anzulegen.

Der Kasten enthielt Fotografien von gesprayten politischen Parolen, Sprüchen oder illegalen Kunstaktionen, die den Tatbestand der Sachbeschädigung erfüllten und von Streifenpolizisten abgelichtet wurden. «Fabelwesen» oder «Fantasiefiguren» wurde auf den Karteikarten mit Naegelis Figuren vermerkt. Der Urheber blieb lange unbekannt. Sehr häufig wurde das Anarchistenzeichen – ein A in einem Kreis – gesprüht, aber auch dadaistische Phrasen der 80er-Bewegung wie «Macht aus dem Staat Gurkensalat» – und natürlich «Züri brännt». Auch allerlei Banales, Blödes und Brutales wie «Fuck you, hi hi hi hi», «Mehr Joints, weniger Gummiknüppel» oder «Terrorismus macht Spass» war zu jener Zeit auf den Betonwänden zu lesen.

In der Kartei fanden sich gegen 2000 Schwarzweissfotos aus den Jahren 1976 bis 1981 und die dazugehörigen Karten; weitergeführt wurde sie bis 1989. Dann wurde das KK III im Zuge der Fichenaffäre und der Überprüfung durch eine parlamentarische Untersuchungskommission aufgelöst.

Rund 30 Jahre später haben der Journalist und Autor Philipp Anz, der Fotograf und Künstler Jules Spinatsch und die Grafikerin Viola Zimmermann 700 dieser Fotografien im Bildband «Schmieren/Kleben» in der Edition Patrick Frey veröffentlicht. Das Vorwort dazu schrieb der aktuelle Vorsteher des Sicherheitsdepartements, Stadtrat Richard Wolff. Unbeabsichtigt vom Staatsschutz, ist diese beeindruckende Sammlung von Sprayereien zu einem historischen Dokument der Jugendunruhen geworden und vermittelt einen Einblick in die Denkwelt der damaligen Akteure.

Herr Anz, wie sind Sie auf diesen Bilderschatz gestossen?

Philipp Anz: 1993 wurden die Akten des Staatsschutzes der Stadtpolizei Zürich dem Stadtarchiv übergeben und später katalogisiert. Den Hauptbestand machen dabei die Akten des Zentralarchivs des KK III, insgesamt sind es rund 1300 Schachteln, wovon die Spraykartei einen kleinen Teil ausmacht. Ein Bekannter von mir, der zur Geschichte Zürichs forscht, machte mich auf diese Fotosammlung aufmerksam. Als ich gemeinsam mit dem Fotografen Jules Spinatsch und der Grafikerin Viola Zimmermann ins Stadtarchiv ging und wir die sieben Schachteln mit Fotodokumentationen über geklebte Flugblätter und Sprayereien, genannt «Schmieren/Kleben» zum ersten Mal sahen, dachten wir: «Wow! Grandios!».Wir wollten die Bilder einer breiteren Öffentlichkeit als Buch bekannt machen.

Wie prägten die Sprayereien in den 1980er-Jahren die Stadt Zürich?

Mit Jahrgang 1971 habe ich das nur am Rande miterlebt. Aber ich erinnere mich noch gut, wie am Löwenplatz auf einem VBZ-Kasten der Spruch stand: «Wir sind wieder hier.» Damals konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Die Figuren von Harald Naegeli war überall in der Stadt zu sehen, mittlerweile ist er als Künstler längst anerkannt und sein Spraywerk «Undine» in Zürich unter Schutz gestellt.

Was bezweckte der Staatsschutz mit den Fotos?

Weshalb das KK III auf die Idee kam, eine solche Kartei zu eröffnen, bleibt unklar. Interessant ist, dass die Polizisten nicht alle Sachbeschädigungen fotografierten, sondern vor allem politische Parolen oder Sprayereien auf öffentlichen Gebäuden. Die meisten Täter wurden übrigens nie gefasst. Dabei gab es eigentliche Hotspots der Sprayaktivitäten: So wurde das Amtshaus auf dem Helvetiaplatz nach jeder Reinigung wieder neu besprüht.

Waren diese Graffiti leere Parolen oder ernst zu nehmende soziale und politische Projektionen?

Wenn heute jemand ein Anarchistenzeichen an eine Wand malt, denkt gewiss niemand, jetzt kommen die Anarchisten. Zu jener Zeit war das aber durchaus der Fall. Insbesondere die Sympathiekundgebungen für die Rote Armee Fraktion alarmierten den Staatsschutz, denn seine Befürchtung war, dass in Zürich respektive in der Schweiz eine terroristische Gruppierung wie die deutsche RAF entstehen könnte. Die Gemeinderat-PUK kam in ihrem Bericht jedoch zum Schluss: «Wie die Akten zeigen, wurde fortan vieles vom Schweizer Staatsschutz als ‹revolutionäre Zelle› verdächtigt, was in Wirklichkeit manchmal nur eine Wohngemeinschaft war.»

Gibt es ein Graffito, das es Ihnen besonders angetan hat?

Ich lebe in Wiedikon, und es gibt ein Foto, das die Betonmauer der Wiediker Poststelle zeigt mit dem Spruch: «Ihr Pöstler, lest nicht immer unsere Postkarten.»

Philipp Anz, Jules Spinatsch, Viola Zimmermann: «Schmieren/Kleben. Aus dem Archiv KK III der Stadtpolizei Zürich 1976–1989», Edition Patrick Frey, April 2018. Buchvernissage: Donnerstag, 26. April, 20 Uhr im Kosmos, Lagerstrasse 104, 8004 Zürich.

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