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Reportage

Die Neumarktgasse an einem sonnigen Frühlingstag. Bild: H. Wehrli

Im Zeichen des Handels und des Aufruhrs

Von: Urs Hardegger

15. April 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Neumarktgasse.

Das Übermass fängt schon bei den Namen an: Mohrenkopf, Zur Stelze, Zum Steinberg, Zum Steinernen Kindli, Zum Goldenen Winkel, um nur ein paar zu nennen. Vollends überbordet es, wenn man beginnt, die Hauszeichen und Gedenktafeln zu studieren. Unweigerlich wird man in frühere Zeiten entführt. Die Rede ist von der Neumarktgasse, die vom Seilergraben ins Niederdorf führt.

Der Name deutet es an: Der Neumarkt gehört nicht zu den ältesten Quartieren, schon vorher bestanden Märkte. Bedeutung bekam die Gasse, weil sie – wegen des Kronentors beim Seilergraben – vom 12. Jahrhundert an für die Händler und Marktfahrer die Hauptverkehrsachse nach Winterthur und ins Zürcher Oberland bildete. Im Zollhaus (Nr. 21) hatten diese das Weggeld zu entrichten. Es sind Handel und Gewerbe, die dieser einzigartigen Gasse ihren Stempel aufdrücken.

Bilgeri gegen Brun

Im Spätmittelalter wurde der Neumarkt zur bevorzugten Wohngegend der ratsfähigen Bürger. Durch Gewerbe und Handel reich geworden, bestimmten sie das politische Geschehen. Stellvertretend sei hier die Familie Bilgeri erwähnt, die den Adelsturm (Nr. 5) bewohnte. Der Vorherrschaft der alten Geschlechter setzte Rudolf Brun aus dem Nachbarhaus (Nr. 3) ein abruptes Ende, als er 1336 mit den Handwerkern das Rathaus erstürmte und die politische Mitsprache der Zünfte erzwang.

Das «Deus providebit» (Gott wird sorgen), das über dem Hauszeichen mit den drei Adlern oberhalb der Tür zur Adlerburg (Nr. 7) thront, führt uns ins aristokratische Zürich des 17. Jahrhunderts. Das Haus, in dem Mabilio Ramos seit einem Jahr eines der wenigen Lebensmittelgeschäfte des Niederdorfs führt, war im Besitz des Bürgermeisters Salomon Hirzel. Dank der damals in aristokratischen Kreisen verbreiteten Sitte, den Nachkommen in ausführlichen Aufzeichnungen die eigenen Verdienste im besten Lichte erscheinen zu lassen, ist Hirzel der Nachwelt als bedeutender Staatsmann in Erinnerung geblieben.

Die Lebenseinstellung des wohlhabenden Bürgertums wird im Giebelfeld des einstigen Zunfthauses Zur Schuhmachern (Nr. 5) auf Lateinisch in Erinnerung gerufen: «Weder unbedacht noch zaghaft, aber klug und grosszügig» soll handeln, wer es in der Stadt zu ­Ansehen ­bringen will. Allerdings ging es am Neumarkt, als das Zunfthaus vom deutschen Arbeiterbildungsverein Eintracht erworben wurde, auch stürmischer zu und her. Hier suchten und fanden Arbeiter, Handwerker und Exilsozialisten Geselligkeit und Bildung, hier diskutierten sie, wie sie der Bourgeoise die Macht und die Produktionsbetriebe entreissen könnten. Bis nach dem Ersten Weltkrieg blieb der Neumarkt eines der wichtigen Versammlungslokale der Arbeiterschaft. Davon ist heute nichts mehr zu spüren. Nur im Theater am Neumarkt ist vielleicht noch etwas vom nonkonformistischen Geist erhalten geblieben.

Unkonform war auch der Zürcher Künstler Varlin – eigentlich Willy Guggenheim –, der im Haus Zur Stelze (Nr. 11) sein Atelier hatte. Nicht nur mit seiner expressiven Kunst, auch mit seinen Clownesken sorgte der Maler in der Zürcher Kunstwelt für Aufsehen. Der ganz grosse internationale Durchbruch ist ihm allerdings nicht gelungen. «In Zürich berühmt und in der Welt verseckelt» soll er einmal resigniert zu seinem Freund Hugo ­Loetscher gesagt haben.

Am Neumarkt ist die Zeit stehen geblieben, ein Blick auf das Stadtmodell im Parterre des Hauses zum Rech (Nr. 4) bestätigt dies. Mir bleibt noch Zeit, um in den Schaufenstern der Boutiquen die Mode, das Kunstgewerbe und die designten Möbel zu betrachten und vor der Neumarktbar in der Frühlingssonne einen Espresso zu geniessen. Nun bin ich endgültig in der Gegenwart angekommen.

Quellen:
Carl, Lea: Zürich. Architekturführer. Zürich 1972.
Fierz, Jürg: Kennen Sie den Neumarkt? «Tages-Anzeiger Magazin» vom 7. 3. 1970, S. 29.

Quellen:
Keller, Gottfried: Hadlaub. Frankfurt a.  M., 1980.
Schiendorfer, Max: Johannes Hadlaub. Göppingen 1990.

Lesen Sie am 11. Mai den Beitrag zum Bullingerplatz.

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