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Reportage

Leben im Stadtkloster, Stille im Alltag

Von: Ginger Hebel

08. August 2017

Wohnformen: Das «Tagblatt» porträtiert in loser Folge Menschen, die unkonventionell leben. Heute: Karl Flückiger und die Stadtkloster-WG – ein Paar, zwei Singles, zwei Flüchtlinge sowie Gäste.

Bevor sie essen, beten sie. Alle zusammen am Esstisch in der Wohnküche. Mittendrin Haile*, der als Flüchtling aus Eritrea nach Zürich kam und seit einem Jahr im evangelischen Stadtkloster lebt – einer WG der besonderen Art direkt neben der Bullinger­kirche im Zürcher Quartier Hard. Pfarrer Karl Flückiger wohnt hier mit seiner Frau Anita, die als Deutschlehrerin in einem Durchgangsheim arbeitet. Psychologiestudent Harald Thoeny und Theologiestudentin Johanna Breidenbach bewohnen je ein Zimmer, ebenso Haile und Said* aus Syrien. Sie teilen sich zwei Badezimmer, die Küche und die Stube. Die Flückigers haben ein privates Wohnzimmer mit Balkon und direkter Sicht auf den Kirchturm. «Das Glockengeläut stört manchmal, dafür ist die Kirche gleich nebenan.»

Dreimal wöchentlich finden hier öffentliche Morgengebete statt, zweimal die Woche Abendgebete. Donnerstags trifft man sich nach dem Gottesdienst zum Nachtessen im Stadtkloster, auch Gäste sind willkommen. Heidi und Beat Schwab sieht man hier öfter.

Erlebnisse teilen, Reichtum erfahren

Karl Flückiger steht hinterm Herd. Er kocht Ratatouille auf Fladenbrot, «etwas Einfaches», sagt er und lacht. Haile hatte früher immer Fertigpizza gegessen. Seit er im Stadtkloster lebt, weiss er, dass es auch noch anderes gibt. Der 30-jährige Hilfsmaler lebt seit drei Jahren in der Schweiz. Im Sommer fängt er eine Malerlehre an. Bei einem Tee in der Stube erzählt er seinen Mitbewohnern von seiner Flucht aus Eritrea. Von der Überfahrt von Libyen nach Sizilien in einem Boot mit 300 Menschen. Die Reise hätte zwei, drei Tage dauern sollen, doch der Bootsführer hatte damals die Orientierung verloren. Die Flüchtlinge sangen, um die Angst zu vertreiben, und beteten, dass Gott sie retten möge. Nach einer Woche wurden sie auf offener See aufge­griffen. Karl Flückiger ist immer wieder aufs Neue gerührt, wenn er diese Geschichte hört. Sie motiviert ihn dazu, sich für Menschen einzusetzen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen.

Erlebnisse miteinander zu teilen, empfindet er als den grössten Reichtum. «Das gemeinsame Wohnen erlebe ich als erstaunlich stressfrei», sagt Karl Flückiger. Seine Frau hat mehr Stress, denn sie stellt höhere Ansprüche an Sauberkeit und Ordnung. Gerade steckt sie in einer WG-Krise, es ist die erste nach einem knappen Jahr. «Mich ärgern Kleinigkeiten wie unsaubere Pfannen. Aber eigentlich gefällt es mir, es sind gute Leute, alle geben sich Mühe.» Sie lacht, denn sie weiss, die Krise geht vorbei.

Als junge Erwachsene lebte sie in einem Kibbuz, später leitete sie mit ihrem Mann ein Haus für psychisch kranke Menschen. Ihre drei erwachsenen Kinder haben alle soziale Berufe. «Wir beten gemeinsam im Alltag, das ist schön», sagt Johanna Breidenbach. Die 34-jährige angehende Theologin geniesst die Gespräche und den Gedankenaustausch. Alle hier teilen das Interesse an Glaubensfragen und Politik. «Wer ist Gott, wo wohnt er? Mich bewegt keine grössere Frage», sagt Johanna Breidenbach. In Haile und Said sieht sie keine Flüchtlinge mehr. «Sie sind meine Mitbewohner.»

Weitere Artikel zu dieser Wohnserie sind online unter der Rubrik Reportagen zu finden. www.tagblattzuerich.ch

* Namen von der Redaktion geändert.

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Ginger Hebel, Tel. 044 248 63 82. ginger.hebel@tagblattzuerich.ch

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