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Reportage

Drogen, Alkohol, Frust: Immer wieder kommt es in Zürich zu Auseinandersetzungen, Schlägen und Messerstechereien. Symbolbild

Messernacht in Zürich

Von: Isabella Seemann

12. Oktober 2021

Justizalltag: An einem Novemberwochenende vor fast zwei Jahren kam es zu sechs Messerstechereien im Raum Zürich. Ein junger Mann, der beim Prime Tower zustach, wurde jetzt verurteilt. 

«Die Stunde der Idioten hat wieder mal geschlagen», sagt der Richter lakonisch. In Polizei- und Justizkreisen ist sie längst zum geflügelten Wort geworden. Die Stunde der Idioten schlägt gegen drei Uhr nachts, wenn die ersten Nachtvögel aus den Clubs kommen, und endet circa sechs Uhr. In dieser Zeitspanne sind oft nur noch die Abgehängten unterwegs, die nicht nach Hause wollen, meist mit Drogen, Frust und Testosteron aufgeladene Jungmänner, die «Lämpen» suchen, weil sie die Stille nicht aushalten. Ein scheeler Blick, ein falsches Wort und schon setzt es Hiebe. Einen solchen Fall hat das Bezirksgericht Zürich nun zu verhandeln.

Murat P.* hieb im November 2019, um Viertel vor drei Uhr morgens vor dem Prime Tower einem jungen Mann ein Messer in die Flanke, der 7,5 Zentimeter tiefe Stich verfehlte nur knapp Organe und Blutgefässe. Beide hatten Glück, wenn man von Glück überhaupt reden kann: Das Opfer überlebte, Murat hat niemanden getötet. Er muss sich am Bezirksgericht wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Waffengesetz verantworten. Sowie wegen verbotener Gewaltdarstellungen, die die Polizei auf seinem Handy fand: In den Videos ist zum Beispiel zu sehen, wie ein Schäferhund einem gefesselten Mann die Genitalien wegfrisst.

Interesse an Waffen

In Handschellen wird Murat, ein 24-jähriger, bärtiger Mann von gedrungener Gestalt, direkt vom baselländischen Massnahmenzentrum Arxhof, wo er den vorzeitigen Vollzug angetreten hat, vor den Gerichtssaal geführt. Innig umarmen ihn seine Verlobte und sein Vater zur Begrüssung und setzen sich in die Zuschauerränge. «Ich stehe hinter ihm!», antwortet die junge Frau unbeirrt auf die Fragen des Richters nach den Zukunftsplänen des Paars. «Ich bleibe bei ihm!» Worauf die Gewissheit der jungen Verwaltungsangestellten ruht, die sich in einem höheren Fachstudium weiterbildet, mit dem Sozialhilfebezüger ohne Ausbildung und Wohnsitz, dafür mit einem mässig attraktiven Bündel an Vorstrafen eine tragfähige Partnerschaft aufbauen zu können, wird nicht weiters erläutert. Doch Murats Vater lächelt und für einen Moment keimt in ihm die Hoffnung auf, dass doch noch alles gut kommt mit seinem Sohn. «Wieso führen Sie ein Messer mit sich, wenn Sie in den Ausgang gehen?», fragt der Richter und schiebt noch polemisch hinterher: «Um Früchte zu schneiden?» Er interessiere sich für Waffen, antwortet Murat. «Mich interessiert der Mechanismus.» Wieso er dann zugestochen habe, will der Richter wissen. «Ich wollte meinem Freund zu Hilfe eilen.» Murat und sein Freund Valon waren in jener Novembernacht zusammen im Ausgang. Das Trio Lukas, Timm und Finn fragte das Duo an, ob es Kokain verkaufe.

Valon bejahte, entriss Lukas das Geld, ohne die versprochenen Drogen zu übergeben, schlug ihn mit der Faust nieder und haute ihm dann noch mit der Gürtelschnalle auf den Kopf ein. Timm hielt Murat fest, doch konnte dieser sich losreissen. Noch während er zu den anderen rannte, öffnete er sein Klappmesser. Von hinten stach Murat in Lukas’ Flanke. Es war eine von sechs Messerstechereien, die an jenem Wochenende Eingang in die Polizeimeldungen fand. Videoaufnahmen überführten das Duo, das zuerst noch geflüchtet war. Valon gab alles zu und wurde separat für seine Taten bestraft, Murat bestreitet die Anschuldigungen. «Wer so zusticht, nimmt tödliche Verletzungen in Kauf», sagt der Staatsanwalt und plädiert auf versuchte vorsätzliche Tötung. Die Pflichtverteidigerin fordert einen vollumfänglichen Freispruch, respektive eine Verurteilung wegen einfacher Körperverletzung. «Der Geschädigte ist auch Aggressor», sagt sie.

Mit grossen Gesten inszeniert sie vor dem Richter ein Theaterstück. «Packen Sie mich mal!», ruft sie ihrem Mandanten zu. Dieser tut wie befohlen und packt die zierliche Blondine auf Stöckelschuhen am Kragen ihres Hosenanzugs. Sie rangeln gespielt miteinander. Da sticht die Verteidigerin mit ihrem Kugelschreiber seitlich auf ihren Mandanten ein. «Sehen Sie, Herr Richter, dieses Zustechen geschah aus der Dynamik heraus und nicht aus Absicht.» Ihr Mandant habe in jener verhängnisvollen Nacht, nach acht Wodkas, mehreren Shots Berliner Luft und Marihuana-Joints einfach mit dem Messer herumgefuchtelt, es sei ihm gar nicht bewusst gewesen, dass er zustach. Das Schauspiel vermochte den Richter nicht zu beeindrucken. Er verurteilt Murat wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe. Der Vollzug wird zu Gunsten der stationären Massnahme für junge Erwachsene aufgeschoben. Die Polizei führt Murat in Handschellen ab. Die Verlobte bleibt zurück. Die Zukunft muss warten.

* Persönliche Angaben geändert

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