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Reportage

In einer solchen Situation sollte man nicht einfach abwarten – aber auch nicht dazwischen gehen, sagt Philipp Schläpfer, Fachspezialist Kriminalprävention. Stattdessen: Die Polizei rufen. Bild: Clipdealer

Mut im Alltag per Schattenspiel

Von: Stine Wetzel

31. Mai 2018

Beherzt einzugreifen, wenn sich zwei auf der Strasse prügeln, ist nicht jedermanns Sache – muss es auch nicht, meint Philipp Schläpfer, Spezialist Kriminalprävention bei der Stadtpolizei. Nicht wegzuschauen sei bereits ein Anfang. Eine Kampagne soll die Zürcher zu mehr Zivilcourage ermuntern.

«Man muss weder in ein brennendes Haus stürzen, noch einen Terroristen umrennen», sagt Philipp Schläpfer, Fachspezialist Kriminalprävention bei der Stadtpolizei. Zivilcourage heisse bereits, nicht wegzugucken, hinzuschauen – «und zwar nicht erst, wenn die Fäuste fliegen». Der 42-Jährige ist Projektleiter der aktuellen Kampagne «Jeder kann HEH!» Das Akronym steht für «Hinschauen», «Einschätzen», «Handeln». Die Stadtpolizei hat die Zivilcourage-Kampagne gemeinsam mit den Zürcher Verkehrsbetrieben lanciert. Es gibt Plakate, einen Online-Selbsttest, Aktionen.

Im Zentrum der Kampagne: ein Live-Experience-Projektor. Schläpfer hat ihn zur Demonstration in der Beratungsstelle aufgebaut. An der Wand Menschen als Schatten: eine Pöbelei im Bus, ein Pärchen, das im Ausgang auf eine Schlägerei trifft, ein Picknick, bei dem der Kollege mit Stammtischsprüchen über Ausländer schimpft. Man steht vor dem Geschehen, muss sich entscheiden, manchmal in fünf Sekunden, manchmal in zehn: Eingreifen, etwas sagen? Sich klein machen, der Situation den Rücken kehren? «Wir empfehlen, nicht dazwischen zu gehen. Das wäre falsch verstandene Zivilcourage. Es gibt andere Lösungen», sagt Schläpfer. Zum Beispiel die Polizei zu rufen. Oder Augenzeugen anzusprechen, um den Bystander-Effekt (so nennt man das Phänomen der abnehmenden Wahrscheinlichkeit Hilfe zu leisten, wenn weitere Zuschauer dabei sind) auszuschalten.

Die Schattenvideos zeigen acht Szenarien, die sich nicht nur um Gewalt drehen, sondern auch um Themen wie Mobbing, Vandalismus, Diskriminierung – dort sei Zivilcourage genauso gefragt wie bei einer Schlägerei.

Erster Einsatz an der Pride

Schläpfer bekam den Auftrag, eine Zivilcourage-Kampagne auf den Weg zu bringen, 2015. Er ist Feuer und Flamme für das Projekt, Zivilcourage eines seiner persönlicher Anliegen. «Ich habe das Gefühl, dass wir es uns in einer Vermeidungskultur bequem gemacht haben. Bevor wir etwas falsch machen, machen wir lieber nichts.» Dabei sei Zivilcourage – sich darauf hinzuweisen, wenn moralischer Konsens und Regeln verletzt werden – die Basis der Gesellschaft. Ein Musterbeispiel sei aber auch Schläpfer nicht. «Ich habe selbst mal einen Krach der Nachbarn erlebt, bei dem ich mich fragte, ob ich mich einschalten soll.» In dem Moment schien ihm das eine Grenzüberschreitung. «Später kam mir zu Ohren, dass der Mann verhaftet wurde. Das hat mir zu denken geben. Sobald man etwas Ungewöhnliches wahrnimmt, trägt man mindestens eine Mitverantwortung.»

Mit der Kampagne will Schläpfer an das Verantwortungsgefühl der Zürcher appellieren und ihnen aufzeigen, wie sie in Notsituationen richtig handeln. Der Schattenprojektor wird am 15. und 16. Juni beim Zurich Pride Festival das erste Mal im Einsatz sein. Mit dem Schwerpunktthema Diskriminierung wird das die erste grössere Kampagnen-Aktion. Mitarbeiter werden auf der Kasernenwiese unterwegs sein, auf Leute zugehen, mit Tablets für den Online-Selbsttest und einer Einladung, die Projektorszenen durchzuspielen. «Multiplikatoren gewinnen», nennt Schläpfer diese Vorgehensweise, «das Sämli der Zivilcourage pflanzen».

www.hehdu.ch

FB @auchdukannstheh

 

«Es muss nicht jedes Papierchen sein» 

Veronika Brandstätter, Professorin für Motivationspsychologie an der Universität Zürich (Bild: PD)

Ist Zivilcourage heute Mangelware?

Veronika Brandstätter: Nein, oft bleiben Menschen zwar hinter ihren Erwartungen an sich selbst zurück, aber generell zeigt sich Zivilcourage in allen Altersgruppen.

Welche Eigenschaften haben Menschen, die Zivilcourage zeigen?

Sie haben eine Wertorientierung, in der Hilfsbereitschaft, soziale Verantwortung, Solidarität mit Schwächeren, Sorge um das Wohl anderer eine grosse Rolle spielen. Ferner behalten sie in kritischen Situationen einen kühlen Kopf, haben ein hohes Einfühlungsvermögen und ein gesundes Selbstvertrauen. 

Ist Zivilcourage lernbar?

Ja, es geht bei der Zivilcourage auch um das Wissen, wie man sich in kritischen Situationen verhält, und um die Kompetenz, dieses Wissen in die Tat umzusetzen, wenn es darauf ankommt. Das Wissen kann man erwerben, die Handlungskompetenz in verhaltensnahen Übungen aufbauen.

Was kann die HEH-Kampagne leisten?

Sie kann Menschen für das Thema sensibilisieren, Menschen anregen, nachzudenken, welche Situationen sie einmal erlebt haben, wie sie da reagiert haben, was sie anders machen könnten. 

Nach dem Idealbild greift man ein, wenn demokratische, zivilgesellschaftliche Werte verletzt werden, das betrifft Gewaltsituationen genauso wie den liegengelassenen Abfall. Besteht die Gefahr einer Übermoralität?

Natürlich kann man alles zu weit treiben, manche sprechen sogar von «Sozialrambos», die sich immer und überall einmischen. Immer geht es darum, situationsangemessen zu reagieren, wenn Werte verletzt werden, die fundamental fürs Zusammenleben sind. Es muss ja nicht jedes Papierchen sein, bei dem man eingreift.

Zivilcourage erfordert auch Mut, denn sie ist mit Risiken für einen  selbst verbunden, insbesondere wenn man impulsiv handelt.

Problematisch an impulsiver Zivilcourage ist in der Tat, dass Menschen dann gewisse Fehler machen, die unter Umständen zur einer Eskalation beitragen (den Täter anfassen, ihn beschimpfen, sich in ein Handgemenge direkt einmischen).

Setzt jemand beim Online-Selbsttest das richtige Häkchen, erhalten Sie die Antworten für Ihre Forschung. Wie ist der Rücklauf?

Bislang haben 2338 Personen am Test teilgenommen. 60 Prozent der Befragten gaben ihre Zustimmung zur wissenschaftlichen Auswertung. Damit gewinnen wir erstmalig einen Einblick in die subjektiven Einschätzungen einer grossen Stichprobe der breiteren Bevölkerung zu typischen Zivilcourage-Situationen. Beim Selbsttest steht aber nicht die Forschung im Vordergrund. Es geht darum, die Teilnehmenden zur Selbstreflexion anzuregen, ihnen aufzuzeigen, dass Zivilcourage in den unterschiedlichsten Situationen relevant werden kann und es verschiedene Handlungsoptionen gibt.

 

 

 

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