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Reportage

Gessnerallee: Die ehemaligen Pferdestallungen haben sich zum Kulturort entwickelt. Bild: Helena Wehrli

Ort der Lebensfreude und Kultur

Von: Urs Hardegger

03. Februar 2015

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt in einer Serie jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Emil-Klöti-Strasse.

Zwischen Sihl und Schanzengraben gelegen, ist die Gessnerallee nicht zu übersehen. Erst recht nicht, seit der hässliche Parkplatz auf der Sihl unter den Boden verschwunden ist und die Sicht auf Fluss und Bahnhof wieder freigegeben hat.

Den Namen hat die Strasse von Salomon Gessner (1730–1788), einem Freigeist, der sich als Maler, Poet und Verleger einen Namen geschaffen hatte. Als Student schloss er sich den Kreisen um Johann Jacob Bodmer an. In geheimen und halb geheimen Sozietäten suchten diese nach Möglichkeiten, um den moralischen Niedergang der Stadt aufzuhalten und die religiöse Intoleranz zu überwinden. In Zürich hatten sich nicht nur Luxus, Günstlingswirtschaft und Korruption ausgebreitet, man versuchte auch alles, was den Menschen hätte Freude bereiten können, einzuschränken: Ob Kleidung, Tanz, Spiel, Familienfeste, Geschenke oder Tabakrauchen, alles wurde reglementiert. Eine Zensurbehörde überwachte Wissenschaft und Kultur, verordnete beispielsweise, dass sich in Zürich auch zweihundert Jahre nach Kopernikus die Sonne noch um die Erde zu drehen hatte oder die Feldmaus in einer Fabel nicht «Adieu» zur Stadtmaus sagen durfte, sondern «Gehabe dich wohl!».

Dagegen rebellierten in den 1750er- Jahren die republikanisch gesinnten Studenten um Salomon Gessner. Zürich sollte sich geistig und sittlich erneuern, allerdings nicht mit rigiden Sittenmandaten, sondern, ganz im Sinne der Aufklärung, mit Wissenschaft, Poesie und Malerei.

Verkrustungen aufbrechen. Zweihundert Jahre nach Gessner und zahlreiche Jugendbewegungen später stand 1980 erneut die städtische Jugend- und Kulturpolitik zur Diskussion. Die etablierten Häuser Tonhalle, Opern- und Schauspielhaus verschluckten fast alle staatlichen Beiträge, für experimentelles Theater und Jugendkultur blieb nicht viel übrig. «Wir wollen alles, und zwar subito» lautete eine der Losungen der 1980er-Jugendbewegung, die Tausende auf die Strasse trieb. Nicht nur «Freie Sicht aufs Mittelmeer» forderten sie, sondern auch eine gerechtere Verteilung der Kulturausgaben.

Freigeister lösen Kavalleristen ab

Auch diesmal gelang es der Jugend, etwas zu bewegen, das zeigt die Gessner­allee. Da, wo früher die Pferde der Schweizer Kavallerie gestriegelt und gesattelt wurden, hat im Theaterhaus Gess­nerallee die freie Zürcher Tanz- und Theaterszene ihre Heimat gefunden und sich als feste Grösse im städtischen Kulturbetrieb etabliert. In den ehemaligen Stallungen befinden sich ausserdem mit El Lokal, Reithalle und Stall 6 charmante Szenebeizen, die sich wohltuend vom Mainstream abheben. Freier Geist besiegt Kontrolle, die Infragestellung des Altbewährten schafft Raum für Neues. Ausserhalb festgefahrener Strukturen kann Andersartiges entstehen, ganz ohne staatliche Aufsicht und prunkvolle Gebäude. An der Gessnerallee haben Freigeist, Lebensfreude und Kultur, ganz im Sinne des Namensgebers, ihre Bleibe gefunden.

Doch halt, ohne eine kleine Ergänzung der Geschichte möchte ich nicht enden. Denn an der Gessnerallee befindet sich seit 2006 der Judith-Gessner-Platz gegenüber der Sihltreppe. Er erinnert an Salomon Gessners Ehefrau, die jahrelang seine Verlagsgeschäfte führte, das Geld zusammenhielt und mit ihrem «gebildeten Geist, feinen Gefühl und munteren Witz» die häusliche Atmosphäre schuf, in der Salomon nach Herzenslust dichten, radieren und malen konnte. Sie steht stellvertretend für viele Ehefrauen und Partnerinnen, die ihren Männern zu Ansehen verhalfen, aber in der Geschichtsschreibung (fast) vergessen gingen.

Quellen:
Lesezirkel Hottingen: Salomon Gessner Gedenkbuch, Zürich 1930.
Ulrich, Conrad: Das 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Kantons Zürich, Zürich 1996.

Lesen Sie am 4. März den Beitrag über die Dufourstrasse.

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