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Reportage

Theo Büschlen leitet die Zürcher Ausnüchterungs- und Betreuungsstelle. Bilder: Nicolas Y. Aebi

Rambazamba-Nächte in der exotischsten Polizeiabteilung

Von: Stine Wetzel

06. März 2018

2017 landeten 873 Personen in der Zürcher Ausnüchterungs- und Betreuungsstelle (ZAB) – 16 Prozent mehr als im Vorjahr. ZAB-Chef Theo Büschlen führt durch «seine» Abteilung für Betrunkene.

Zwei Schritte, dann kommt schon der Sichtschutz aus Karton, dahinter ein WC. Eierschalenfarbene Wände, eierschalenfarbener Boden, eine Matte, in der Ecke die Überwachungskamera. Die meisten verbringen drei bis neun Stunden in der Ausnüchterungszelle, nachdem sie von der Polizei in Gewahrsam genommen worden sind. Weil sie im Rausch in Rage gerieten und andere Personen angingen. Oder weil sie sich in der Trunkenheit selbst gefährdeten.

«Im Winter haben wir mehr Fälle von Eigengefährdung als sonst», sagt Theo Büschlen. «Wer bei eisigen Temperaturen seinen Rausch auf einer Parkbank versucht auszuschlafen, kann seine Lage nicht richtig einschätzen.» Büschlen ist der Gesamtleiter der Zürcher Ausnüchterungs- und Betreuungsstelle (ZAB), seit ihrer definitiven Einführung 2015. 2012 begann er hier als Teamleiter zu arbeiten, Teilzeit, nebenher studierte der Polizist Theologie. 2015 kam der Leitungsposten. «Die Ausnüchterungsstelle mit der interdisziplinären Aufstellung ist ein bisschen exotisch innerhalb des Polizei­apparats. Aber genau das gefällt mir.»

Auslastung unter erwarteten 1000

Am 12. März 2010 wurde die Ausnüchterungsstelle im Zellentrakt der Regionalwache City in der Zürcher Innenstadt in Betrieb genommen, zunächst als Pilotprojekt: neun Zellen für den Polizeigewahrsam mit medizinischer Betreuung. Vorher nüchterten die Personen unter Alkohol- und Drogeneinfluss, die sich oder andere gefährdeten, in einer Polizeiwache ohne medizinische Überwachung aus – es kam immer wieder zu kritischen Situationen, bis hin zu einem Todesfall einer stark alkoholisierten Person in einer Zelle, wie es in der Abstimmungszeitung hiess.

Am 30. November 2014 kam die definitive Einrichtung der ZAB vors Volk, die Zürcher stimmten ihr zu. Seit 2015 ist die ZAB täglich von 22 bis 12 Uhr geöffnet, dazwischen gibts einen Pikettdienst. Ein Viererteam ist nachts vor Ort: der einsatzleitende Polizist, zwei Sicherheits­assistenten, ein Angestellter vom medizinischen Personal der JDMT Medical Services AG. Die Firma aus dem zürcherischen Pfäffikon hat die medizinische Betreuung schon in der Pilotphase übernommen. Das Gesundheits- und Umweltdepartement der Stadt Zürich hat ihr den Auftrag erst mal bis 2019 erteilt.

2017 landeten 873 Personen in der ZAB – 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Auslastung liegt allerdings unter dem erwarteten Wert. Ursprünglich ging man von 1000 Personen im Jahr aus. Da waren neben den Alkohol- und Drogenkonsumenten mit Fremd- oder Eigengefährdung auch noch psychisch Auffällige vorgesehen. «Personen, die fürsorgerische Hilfe brauchen, werden aber, sofern sie nicht betrunken oder ­berauscht sind, nun nicht bei uns, sondern von Notfallpsychiatern oder auf der Polizeiwache ­betreut und abgeklärt», sagt Büschlen.

Problem nimmt zu

Für die Spitäler ist der Ausnüchterungsbetrieb eine Entlastung. «Jede Person, die dort ausnüchtert, muss das nicht auf einer Notfallstation tun», sagt Elisabeth Simons, Leiterin Abteilung Internistische Notfälle am Stadtspital Triemli. Das Triemli verzeichnete, wie auch das Universitätsspital, 2017 auf der Notfallstation zehn Prozent mehr Patienten mit Alkoholintoxikationen als im Vorjahr. «Das zeigt die Zunahme des Problems.» Es sei eine Erleichterung, dass aggressive Patienten von Anfang an in der ZAB ausnüchtern oder vom Spital dorthin verlegt werden können.

Jeder Dritte zahlt Gebühr nicht

Im Pausenraum hängt eine Fotografie in Grossformat an der Wand, zwei Polizisten mit Kaiser-Wilhelm-Schnauz in Schwarzweiss, in ihrer ­Mitte liegt ein Mann in einer Trage aus Korb­geflecht, mit Lederriemen festgeschnallt. «So hat man früher Betrunkene abtransportiert», erzählt Büschlen. Wenn das Telefon in der ZAB klingelt, dann wegen einer Anmeldung: Der nächste Klient ist unterwegs. In der Ausnüchterungsstelle sind es Klienten – keine Patienten, keine Insassen –, Klienten, die Gebühren zahlen. Das Projekt Ausnüchterungsstelle war in der Bevölkerung breit abgestützt, drohte aber aufgrund der Gebühren zu kippen. Gegenwind gabs etwa seitens SVP, FDP und CVP, die sich fragten, warum Steuerzahler «Kampftrinker» subventionieren sollten. Die Gebühren wurden als zu tief kritisiert. Die ursprünglichen Pauschalen wurden vom Statthalter des Bezirks Zürich jedoch zurückgepfiffen: Sie seien zu hoch angesetzt. Mit ihrem Ja an der Urne haben die Zürcher Gebühren zwischen 450 und 600 Franken abgesegnet. Jeder Dritte hat 2017 allerdings die Rechnung nicht gezahlt. Über die Gründe kann Büschlen nur mutmassen. «Allenfalls handelt es sich um Leute, die untergetaucht sind und deshalb nicht kontaktiert werden können.» 

Der Betrieb der ZAB kostet die Stadt pro Jahr 1,2 Millionen Franken. Sie ging bei einer Auslastung von 1000 Klienten davon aus, dass jeder Fall Kosten von 1200 Franken verursacht. Um die Rechnung zu verbessern, bestehen Leistungsvereinbarungen mit 32 Gemeinden aus dem Kanton. Bringt die Kantons- oder Gemeindepolizei einen Klienten, entrichtet sie 475 Franken an die ZAB.

Cool-Down

Büschlen geht über den Korridor, links von ihm die Ausnüchterungszellen. Nummer 39 ist die «berühmte pinke Zelle», wie der 35-Jährige sagt. «Pink soll besonders beruhigend wirken. Wir haben das mal ausprobiert, aber ehrlich gesagt, merken wir davon nicht so viel. Immerhin ist sie fotogen», sagt er und lacht. Über seinen Tisch geht jeder einzelne Fall. «Als Leiter muss ich alle Vorgänge und Entscheide prüfen.»

Drei- oder viermal im Monat macht er selbst Nachtschichten als Teamleiter, ist verantwortlich für die Ein- und Austritte. Wenn ein Klient gebracht wird, durchsuchen ihn die Sicherheitsassistenten. Alles, was gefährlich sein kann, wird ihm abgenommen: die Schuhe, Pullover mit Kordeln, der Gürtel, notfalls kriegt er Ersatzkleidung. Entfesselt wird der aggressive oder renitente Klient erst in der Zelle. Dann heisst es fürs Team, die «Cool-down-Phase» abzuwarten, der Klient soll sich beruhigen. «Das ist gar nicht ohne. Man muss sich vorstellen, was da alles zusammenkommt: Der Berauschungsfaktor, dann hat sich die Person vielleicht mit weiteren Substanzen aufgeputscht, auf einer Party Leute gebissen – alles schon vorgekommen –, wurde festgenommen und unter Zwang hierhergebracht.»

Nach einer Viertelstunde sind die medizinischen Checks dran, sofern sich der Klient beruhigt hat. Bei fast einem Drittel kann der Blut­alkoholgehalt nicht gemessen werden. «Manche schaffens nicht mal, die fünf Sekunden ins Gerät zu pusten.» Der Test ist kein Zwang, eine rechtliche Handhabe hat die ZAB nicht. «Hinzu kommen Intoxikationen, die aus einem Mischkonsum resultieren. Das sind für uns die schwierigen, unvorhersehbaren Fälle. Da kann jemand Aktives ganz plötzlich apathisch werden. Wenns aus dem Ruder läuft, dann bleibt nur die Hospitalisierung.» Im letzten Jahr wurden 15 Personen ins Spital überwiesen. Darunter Klienten, bei denen eine Wunde genäht werden musste oder ein CT nach einem Sturz nötig wurde.

Entlassung auch mit 2,3 Promille

Jede Viertelstunde nimmt das Team einen neuen Anlauf, den Zustand einzuschätzen: Beobachtungen, Befragungen, Tests. Nach der ersten Stunde nur noch alle 30 Minuten, dann jede Stunde. «Engmaschige Bewachung» nennt das Büschlen. Wer entlassen wird, muss nicht unbedingt nüchtern sein. «Der Alkoholgehalt ist eine Referenz für uns, aber hier kann ein Trinker auch mit 2,3 Promille rausgehen, wenn keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung mehr besteht.» Wiederum kann es einem Klienten klinisch gut gehen, er muss aber da bleiben, wenn er noch aggressiv ist.

Die Spitzenzeiten in der Ausnüchterungsstelle sind am Wochenende. «Aber man kann schon mit zwei Personen Rambazamba-Nächte haben», meint Büschlen. Wenn jemand herumtobt und schimpft wie ein Weltmeister, müsse man sich aus medizinischer Sicht weniger Sorgen ­machen, dann aber haben die Assistenten alle Hände voll zu tun.

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Ausnüchterungsstelle in Zahlen

• Im letzten Jahr wurden 873 Personen in die Ausnüchterungszelle gebracht – 122 mehr als 2016 –, davon 82,5 Prozent Männer und 17,5 Prozent Frauen.

• Drei von fünf wurden als Gefahr für andere eingestuft.

• 60 Prozent der Klienten kamen zwischen Freitag und Sonntag.

• 18- bis 24-Jährige wurden am meisten zugeführt (25,8 Prozent), gefolgt von 25- bis 29-Jährigen (14,1 Prozent). Unter 18-Jährige machten 1,7 Prozent aus, über 55-Jährige 8,6 Prozent.

• 36 Prozent der Klienten kamen aus der Stadt, 32 aus dem Kanton, 19 von ausserhalb, 7 aus dem Ausland. Bei 6 Prozent konnten keine Angaben gemacht werden.

• Die meisten (42 Prozent) hatten bei der Einlieferung 1–2 Promille im Blut.

• 29,9 Prozent der Klienten konnte die Ausnüchterungszelle innerhalb von 3 Stunden wieder verlassen. Der Grossteil (70,8 Prozent) verweilte zwischen 3 und 9 Stunden in der Zelle.

• Es gibt eine Pauschale für die Klienten, die sich nach der Aufenthaltsdauer richtet: Unter einer Stunde kostets nichts, bis drei Stunden 450 Franken, bis sechs Stunden 520 Franken, über sechs Stunden 600 Franken. Medizinische Leistungen werden gesondert gelistet und von der Krankenkasse abgerechnet. Alle Daten beziehen sich auf 2017.

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