Reportage
Schönheit trotz Lärm und Durcheinander
Von: Urs Hardegger
Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Schaffhauserstrasse.
Wo befindet sich das Herz der Stadt? Wo ist Zürich sich selbst? Wo zeigt sich die Limmatmetropole weder grossspurig, noch versinkt sie in Gleichförmigkeit? Fragen, auf die jeder seine eigene Antwort hat. Für mich sind es Orte, die wegen ihrer Unscheinbarkeit leicht zu übersehen sind und doch Leben und Leidenschaft ausstrahlen. Meinen persönlichen Lieblingsort habe ich an der Schaffhauserstrasse, im Abschnitt zwischen Guggach und Milchbuck.
Manch einer mag über die Wahl erstaunt sein, wird mir den Lärm und die Abgase der Autos entgegenhalten, die sich tagtäglich durch die Schaffhauserstrasse in die Innenstadt zwängen, oder über das Durcheinander an der Glassammelstelle schimpfen, das mitunter gewaltige Ausmasse annimmt. Zugegeben: Der raue Charme dieser kurzen Allee hält sich lange vornehm zurück, braucht seine Zeit, bis er zum Tragen kommt.
Menschen in unterschiedlichsten Lebenslagen wohnen, leben und treffen hier zusammen. Zum Beispiel im 8057, direkt bei der Tramstation Guggach. Eine Bar und ein Zeitungskiosk, an sieben Tagen die Woche von morgens sieben Uhr bis Mitternacht geöffnet. Seit elf Jahren betreibt Enver Musoli gemeinsam mit seiner Frau das unscheinbare Lokal. Männer ab 50 aus dem Quartier sind seine Stammgäste, finden hier das Stück Heimat, das sie einst in der Quartierbeiz fanden. Hier trifft sich «Volkes Stimme», man kennt sich, kann kommen und gehen, ganz wie es einem passt.
Reise in die Vergangenheit
Ein paar Häuserzeilen weiter, im Café der Bäckerei Kern, fühlt man sich in die 1950er-Jahre zurückversetzt. Ältere Frauen verdrücken auf einer der dunklen Bänke Patisserien, blättern in Gazetten oder treffen sich zu einem Schwätzchen. Nostalgische Gefühle löst auch die Bäckerei aus, die seit 1928 eigene Brote und Backwaren herstellt. Ein kleines, aber feines Sortiment! Man staunt, wie sich ein Geschäft an dieser Lage über so lange Zeit gegenüber der übermächtigen Konkurrenz der Grossbäckereien und Discounter behaupten kann.
Mediterranes Lebensgefühl
Das vielleicht beste spanische Restaurant der Stadt liegt dazwischen, seit über 20 Jahren geführt von Romy und Emilio González. Ein mediterranes Lebensgefühl macht sich breit, wenn man Gelegenheit hat, sich im Innenhof an einem lauen Sommerabend bei einem Glas Wein und einer Parillada in die Nacht zu plaudern. Ein Gefühl, das einen auch im Garten der Pizzeria da Amici befällt.
Vor hundert Jahren dominierten hier noch Weiden und Äcker, denn die Stadt war am Schaffhauserplatz praktisch zu Ende. Erst in den 1920er-Jahren entstanden entlang der Strasse die ersten Häuser. Um in die damals selbstständige Gemeinde Oerlikon zu gelangen, bedurfte es eines halbstündigen Marsches über den Milchbuckhügel. Einfacher hatte es, wer sich das elektrische Tram leisten konnte, das bereits ab 1897 über die Schaffhauserstrasse nach Oerlikon und Seebach holperte.
Der Zeit angepasst hat sich der Ladenmix. Da, wo einst eine Metzgerei war, gehen nun Döner Kebabs über den Ladentisch, an die Stelle des früheren Konsums ist ein gut besuchtes Coop-Center getreten. Trotzdem erstaunt, wie bunt sich entlang der Strasse Restaurants und Take-aways mit Lebensmittel-, Einrichtungs- und Bekleidungsgeschäften mischen, aber auch Coiffeure, eine Apotheke und Arztpraxen vorhanden sind.
Nicht vergessen gehen darf der kleine Guggachmarkt, der am Dienstag und Freitag die Anwohner mit Frischprodukten versorgt. Ein bunte Mischung macht das Flair aus. Mitunter glaube ich sogar etwas vom Trotz zu spüren, mit dem sich Anwohner, Quartierläden und Kleingewerbe mutig gegen eine «Stadtteilaufwertung» und die Ausbreitung der immer gleichen Ladenketten stemmen. Vielleicht ist es das, was dem Ganzen die Seele gibt.
Kennen auch Sie solche Orte mit einem speziellen Flair? Dann melden Sie sich bei info@urshardegger.ch
Lesen Sie am 23. Juni den Beitrag zur Heinrich-Bosshardt-Strasse.
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