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Reportage

«Einen weissen Stock zu beantragen, ist ein grosser Schritt»: Urs Lüscher ist seit 20 Jahren sehbehindert. Wir waren mit ihm in der Stadt unterwegs. Bilder: CLA

Sichtbar unsichtbare Wege

Von: Clarissa Rohrbach

10. Februar 2015

Wie orientieren sich Blinde und Sehbehinderte in Zürich? Wir waren in der Stadt unterwegs – ohne etwas zu sehen.

Koffer sind für ihn ein Riesenproblem. Und für mich jetzt gerade auch. Urs Lüscher und ich folgen den weissen Linien im Hauptbahnhof – korrekt heissen sie taktil-visuelle Leitlinien. Unsere Blindenstöcke rattern von links nach rechts und wieder zurück über die Streifen, die sich unmerkliche vier Millimeter vom Boden abheben und dafür sorgen, dass wir überhaupt unseren Weg finden. Und da steht nun dieser Koffer. Wenigstens nehme ich an, dass es einer ist. Meine Augen sind verbunden, ich sehe nur Schwarz. Die Umgebung setze ich aus Geräuschen zusammen, gehetzten Schritten und Lautsprecheransagen. Ich taste mich vorwärts, unsicher, ob hier eine Säule oder eine Wand steht. Der Besitzer des Gepäckstücks bemerkt uns und entschuldigt sich. «Ich dachte, die Linien sind dafür da, damit ich mit dem Koffer geradeaus fahren kann.»


«Hindernisse auf den Linien sind für uns sehr problematisch, viele Leute wissen gar nicht, wofür die Markierungen sind.» Vor 20 Jahren merkte Lüscher, dass sein Sehvermögen nachlässt, später diagnostizierten die Ärzte Retinitis pigmentosa, eine erbliche Netzhauterkrankung. Er hat wie die meisten Sehbehinderten einen Sehrest, der es ihm erlaubt, je nach Lichtverhältnissen Umrisse und Farben zu erkennen. Von den 325 000 sogenannten Blinden in der Schweiz sind weit unter zehn Prozent vollkommen blind. Wie bei Lüscher, Sekretär der Sektion Zürich-Schaffhausen des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (SBV), verloren die Augen im Verlauf des Lebens an Sehkraft.


Es sei ein grosser Schritt, einen weissen Stock zu beantragen. «Er weist auf eine Schwäche hin, man zeigt sich als Behinderter, das wollen einige nicht.» Wer erkennbar als Blinder unterwegs sei, werde zu einer öffentlichen Person. Die Leute sprechen einen an, bieten Hilfe. Je nach Charakter könne das frustrieren. Überhaupt nehme jeder die Erblindung anders auf. Für manche bedeutet sie eine Depression oder sogar den Freitod, andere passen sich an die neuen Lebensumstände an. So wie Lüscher, der ein Handy hat, das mit ihm spricht, und einen Computer, dem er Mails diktiert. «Gesichtsausdrücke fehlen mir, aber sonst klappt alles im Alltag.» Die Beratungsstelle des SBV, wo wir jetzt hingehen, hilft Blinden, ihn zu bewältigen. Auch Unterricht in Orientierung und Mobilität gibt es hier. Den sollte eigentlich jeder besucht haben, der einen Blindenstock besitzt. Obwohl die einzige Garantie, sich nicht zu verirren, das Auswendiglernen des Weges ist.


Wir folgen den Linien entlang der Limmatstrasse. Plötzlich spüre ich unter den Füssen mehrere aneinandergereihte Linien: ein Aufmerksamkeitsfeld. Die Vierecke sagen einem:  «Achtung, jetzt passiert etwas!» Das kann der Beginn oder das Ende einer Treppe, eine Ampel oder ein Trameinstieg sein. Jetzt ist es das Zeichen, dass die Leitlinien aufhören. Danach orientieren wir uns an den Hausfassaden. Nach 50 Metern und vielen Minuten erreichen wir den Randstein des Trottoirs. Höchste Sorgfalt ist geboten. Wir lauschen den Autos, lassen alle vorbeifahren, heben dann unseren Stock und überqueren die Strasse. Ein mutiges Unterfangen, wie mir scheint. «Blinde sind auf die Akustik angewiesen. Ist der Lärm stark, wird es schwierig», sagt Lüscher.


Eine weitere Herausforderung seien Baustellen. Die würden aber alle im Voicenet, einer telefonischen Informationsnummer für Blinde, festgehalten. Auch das Tiefbaudepartement informiere über Arbeiten. Bei vielen Projekten bezieht die Stadt die Bauberatung der Behindertenkonferenz des Kantons Zürich ein, wo auch Lüscher im Vorstand arbeitet. «Zürich ist sehr empfänglich für unsere Anliegen.» Der neue Sechseläutenplatz und der Bahnhof Löwenstrasse seien sehr gut mit Leitlinien erschlossen. Auf dem Turbinenplatz und den Begegnungszonen hingegen bestehe noch Handlungsbedarf. Zurzeit kämpft die Bauberatung dafür, dass das Zentrum von Albisrieden blindengerecht gestaltet wird. Bezahlt werden die weissen Linien von der öffentlichen Hand, denn die Infrastruktur untersteht dem Behindertengleichstellungsgesetz, das eingeschränkten Menschen den Zugang zu wichtigen öffentlichen Orten gewährleistet.


Wir gehen zurück zum Bahnhof, ich ohne Augenbinde, Lüscher mit seiner Hündin Naggia. Wie alle Blindenhunde versteht sie nur Italienisch, weil die Laute besser erkennbar sind als auf Deutsch. Naggia bleibt vor der Strasse stehen und klettert mit den Vorderpfoten die Ampel hoch, um sie seinem Herrchen zu zeigen. Dafür bekommt sie ein Guetsli. Danach befiehlt ihr Lüscher «Tempo», und die beiden marschieren zügig zum HB. Da steht schon wieder ein Koffer, aber Naggia macht einen grossen Bogen drumherum. Braver Hund.

 

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