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Reportage

Das Geräusch zur Seelenwanderung in der Stiftsbibliothek: Das Knarren des Bodens aus Tannenholz. Bild: Stiftsbibliothek St. Gallen.

St. Gallen Spezial zum Sechseläuten: Klosterhof 6D - Hier wohnt die Weisheit

Von: Jan Strobel

09. April 2013

Seit 30 Jahren ist die Stiftsbibliothek UNESCO-Weltkulturerbe. Ein Rundgang durch die geheimnisvolle «Seelen-Apotheke» und «Bücherarche».

Als die Mädchen die Tote mit ihrem schwarz-braun verfärbten Gesicht entdecken, beginnen sie zu lachen. Die Kinder witzeln besonders über den Namen dieser Mumie, die hinter Glas auf einem dünnen Kissen ruht, die einbalsamierten Lippen leicht geöffnet. Schepenese, die ägyptische Priestertochter, tut einem in diesem Moment ein wenig Leid, der Betrachter wünschte ihr ein bisschen Ruhe in ihrem kunstvollen Sarkophag, der hinter ihr aufgstellt ist. Beschrieben ist er mit Sprüchen aus dem Totenbuch, die der Verstorbenen im Jenseits den richtigen Weg weisen sollen. Im Diesseits führte sie ihr Weg im Jahr 1836 in die Stiftsbibliothek St. Gallen, wo sich seither Generationen von Besuchern und Wissenschaftlern neugierig über die rätselhafte Ägypterin beugen.

Aber immerhin: Schepeneses Heimat ist ein Ort der Seelenwanderung, er ist die «Heilstätte der Seele», die «Seelen-Apotheke». So steht es in griechischen Lettern über dem Eingang zum Barocksaal aus dem 18. Jahrhundert, der zu den ältesten Klosterbibliotheken der Welt zählt und 1983 zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt wurde. Eine Heilstätte im christlichen Sinn ist dieser Ort, seit sich der reisefreudige irische Mönch Gallus 612 hier niederliess - mitten in einem von Bären bevölkerten Urwald. Wie viele andere vor ihm wollte auch dieser Eremit mit seinen Jüngern noch die letzten störrischen Heiden zum richtigen Glauben bekehren. Hundert Jahre später gründete schliesslich der Heilige Otmar das Kloster St. Gallen, das sich schnell zu einem geistigen Zentrum Mitteleuropas entwickelte.

Das Knarren des Tannenholzes
Wo sich einst die Benediktinermönche der Fürstabtei kontemplativ in die kostbaren Bücher und Schriften vertieften, sind es heute Touristen in Filzpantoffeln, die von Vitrine zu Vitrine schlurfen. Die Stiftsbibliothek zwingt zu einer ganz eigenen, langsamen Gangart. Das Geräusch zur Seelenwanderung ist das Knarren des Bodens aus Tannenholz. Jährlich finden bis zu 120 000 Besucher den Weg hierher. An die 150 000 Bände stehen in den vergitterten Regalen, und es werden laufend mehr, sei es durch Schenkungen oder durch Ersteigerungen. Immer wieder bietet die Stiftsbibliothek bei einer Auktion mit, wenn wieder irgendwo auf der Welt unvermutet eine Handschrift aus dem Kloster auftaucht, wie unlängst bei Christie`s in New York. Die St. Galler Bibliothekare griffen zum Hörer und erhielten den Zuschlag für 80 000 Dollar.

Die Bestandsliste der Schätze in diesem Saal ist lang. Da ist zum Beispiel der «Abrogans», ein lateinisch-althochdeutsches Glossar. Das 17 mal 10,5 cm kleine Werk stammt aus dem Jahr 790 und ist das älteste erhaltene Buch in deutscher Sprache. Oder dann die «Historia von dem pösen Dracula», in der 34 Geschichten des blutrünstigen Fürsten der Walachei gesammelt wurden. Verängstigte Mönche auf der Flucht brachten die schauerlichen Berichte nach St. Gallen, wo sie seither gut verschlossen lagern. Eine weitere Preziose erzählt von der Lebenslust der Fratres, die hier fleissig Bier konsumierten und sich auch mit Bier bezahlen liessen. In der Stiftsbibliothek findet sich das älteste deutschsprachige Dokument, das von Bier berichtet, es stammt aus dem Jahr 754.

Bei all dieser versammelten Weltkultur befällt den Zürcher in seinen Filzpantoffeln eine leichte Scham. Schliesslich wurde dem Kloster von Zürcher Seite ziemlich übel mitgespielt. Zum einen indirekt durch die Reformation, als Zwinglis enger Freund Vadian den neuen Geist auch in der Stadt St. Gallen durchsetzte und es zum Bildersturm auf die Fürstabtei kam, die, wenn auch kurzfristig, ihre alte Macht verlor. Zum anderen ganz konkret, als Zürcher Truppen im Zweiten Villmergerkrieg 1712 den kostbaren Globus in der Bibliothek kurzerhand zerteilten und als Beute schamlos nach Zürich verschleppten. Es entbrannte der «Kulturgüterstreit», der erst 2006 beigelegt wurde. Die Stiftsbibliothek erhielt eine Kopie des Globus, die jetzt in frischen, strahlenden Farben den Besucher in die Welt des 16. Jahrhunderts versetzt, als Monster die Meere beherrschten. Das angeknackste Selbstbewusstein der St. Galler allerdings konnte dadurch nicht vollständig repariert werden, auch wenn Cicero einst meinte: «Wenn du eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen». Es hilft nichts. Manch einer fühlt sich von den Zürchern über den Tisch gezogen, weil das Original nun im Landesmuseum bleibt. Wie zur Unterstreichung der Zürcher Barbarei ist auf einem Info-Täfelchen der profane Holzkarren abgebildet, in dem der St.Galler Stolz gen Westen abtransportiert wurde.

Mindestens eine hat dieses Drama immer kalt gelassen: Schepenese, die heimliche Königin von St. Gallen, die in der zauberhaft zeitlosen «Bücherarche» Stiftsbibliothek noch immer ins Jenseits schippert. 

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