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Reportage

Der Anny-Klawa-Platz, ein kleiner, aber feiner Begegnungsort. Bild: Regula Weber

Symbol für weibliche Widerstandskraft

Von: Urs Hardegger

30. Mai 2017

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: der Anny-Klawa-Platz.

Am Rande des Anny-Klawa-Platzes steht ein unscheinbares Bäumchen. Auf Anregung der Gewerkschaftsfrauen wurde es zum 25-Jahr-Jubiläum des Frauenstreiktags vom 14. Juni 1991 gepflanzt. Es wird noch ein Weilchen dauern, bis das zarte Stämmchen der nordamerikanischen Roteiche tatsächlich zu einem «Symbol für die weibliche Widerstandskraft» werden wird. Denn auch mit Frauenpower wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Doch die Symbolik passt. Denn Anny Klawa Morf (1894 bis 1993) war nicht nur eine aktive Sozialistin, die sich beim Landesstreik von 1918 und der Münchner Räterepublik im April 1919 engagierte. Sie war ebenso eine vehemente Vorkämpferin für die Rechte der Frauen.

Das Herz eines Quartiers schlägt auf seinen Plätzen. Deshalb tut die Stadt gut daran, diese Begegnungsorte sorgfältig zu gestalten. Das kleine, aber feine Anny-Klawa-Plätzchen zwischen Sihlfeld- und Erismannstrasse ist ein gelungenes Beispiel. Unter noch jungen Bäumen laden sechs Lärchenholz­bänke zum Verweilen ein. Ein betagtes Ehepaar nutzt eine, um die Einkaufstaschen für ein paar Minuten abzustellen und wieder zu Atem zu kommen, ein südländisch aussehender Mann mit einer Zigarette im Mundwinkel wartet auf einer anderen, bis sein Hündchen sein Geschäft erledigt hat. Drei Kinder stürmen zum Trinkbrunnen, um ihren Mund unter den erfrischenden Wasserstrahl zu ­halten. Wenige Meter entfernt, entsorgt eine Dame in Trainerhosen verschämt ihren Hauskehricht im aufgestellten Abfalleimer. Zufälliges Zusammentreffen verschiedenster Erscheinungen des heutigen städtischen Lebens.

Von Armut geprägt

Anny Klawa Morf steht als typisches Beispiel eines Arbeiterkindes ihrer Zeit. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Aussersihl und Albisrieden auf, wurde früh mit den Nöten der Existenz konfrontiert. Schon als Siebenjährige musste sie ihrer Mutter beim Nähen von Knopflöchern helfen. Oft schlief sie deswegen in der Schule ein. Nach der Schule – kaum fünfzehnjährig – arbeitete sie in einer Seidenweberei und begann, sich politisch bei der sozialistischen Jugend zu betätigen, wo sie die erste Frauengruppe gründete. Auch als sie deswegen die Stelle verlor, blieb sie politisch aktiv. Sie war als einzige Frau Mitglied des Debattierclubs, der sich im Ersten Weltkrieg um Lenin gebildet hatte. Ihre grösste Leistung war jedoch die Gründung der Organisation der Kinderfreunde. Daraus entstanden später die Roten Falken, eine Art Pfadfinder mit sozialistischen Inhalten.

Wenn man heute auf dem Anny-Klawa-Platz sitzt, fällt es schwer, sich vorzustellen, wie verrufen bis vor nicht allzulanger Zeit die Gegend war. Chräis Chäib, Scherbenquartier und Proletenviertel wurde das Gebiet ennet der Sihl geschimpft. Prekäre Lebensverhältnisse, überfüllte Wohnungen und hohe Kriminalität liess die Vornehmen die Nase rümpfen. Noch in den 1980er-Jahren warnten Städteplaner vor der Verslumung des Quartiers. Das Gegenteil ist eingetreten. Das einstige Armenquartier hat sich zur attraktiven Wohngegend gewandelt.

Geduld ist gefragt

Dazu tragen neben der Verkehrs­beruhigung auch Orte wie der ­Anny-Klawa-Platz bei. Der Platz gibt sich bescheiden. Man muss sich Zeit für ihn nehmen. Gleich wie bei Anny Klawa, die als unermüdliche Organisatorin und Helferin, der Arbeiterbewegung ein Leben lang verbunden blieb. Sie hatte sich – ­typisch für damalige Frauen – nie in den Vordergrund gedrängt. Erst in den 1980er-Jahren begannen junge Historikerinnen über ihre spannende Biografie zu berichten. Manchmal braucht es Geduld, bis sich die wahre Grösse zeigt. Geben wir also der Roteiche noch ­etwas Zeit. Sie wird eines Tages über die umliegenden Häuser hinausragen.

Quellen:
Frei, Annette: Die Welt ist mein Haus. Zürich 1991.
Luginbühl-Weber, Gisela: Anny Klawa Morf. In: Emanzipation 13/1987.

Lesen Sie am 14. Juni den Beitrag zum Heuelsteig.

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