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Reportage

"Töte deine Schwester, sonst hast du keine Ehre!"

Von: Isabella Seemann

28. April 2015

Ein Kurde soll seinen Ex-Schwager zu einem doppelten Ehrenmord angestiftet haben. Dafür wird er verurteilt. Der Beschuldigte legt Berufung ein, es sei alles eine Verschwörung gegen ihn.

Lange hatte er mit sich gerungen, mit Fragen nach der Ehre, nach Recht und Gerechtigkeit. Er hielt sie nicht mehr aus, diese Blicke seiner Verwandten, diesen Druck, die Scham und die Schmach. Er schaffte sich eine Waffe an, mit Munition, und fuhr von Oerlikon in den Kreis 4, wo er in einem Kebabstand seinen einstigen Schwager treffen würde, den Bruder seiner Ex-Frau, die er geheiratet hatte, als sie 11 Jahre alt war. Eine Cousine aus dem Nachbardorf in Südostanatolien, mit 16 gebar sie ihm das erste Kind. Mansur*, sein Ex-Schwager, schuldete ihm noch einen Gefallen, nebst den 70 000 Franken, für die er sich selber bei einem Kreditunternehmen verschulden musste.


Es war ein warmer Frühlingsabend im Mai vor zwei Jahren. Andere Leute flanierten oder grillierten im Park. Er würde zwei Morde in Auftrag geben. Seine Hände zitterten, als er im Lokal an der Badenerstrasse ankam, und er trank erst mal einen Tee. Nach einer halben Stunde sah er Mansur draussen am Rauchertisch. «Du schuldest mir Geld», sagte er zu Mansur und drängte ihn in den Hinterhof. «Du hast keine Ehre!», «Deine Schwester ist eine Hure», «Du musst sie töten – und ihren neuen Freund dazu!» Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, zeigte er Mansur die im Gurt steckende Pistole. «Hier! Nimm sie! Stell die Familienehre wieder her!» Mansur erschrak, seine Stimme bebte: «Nein, meine Schwester hat das Recht, so zu leben, wie sie will. Lieber lebe ich ehrlos, als so was zu tun.» Darauf sagte der nach Rache Dürstende: «Wenn du die beiden nicht erschiesst, mach ich es. Und die letzte Kugel ist für dich.» Mansur suchte Schutz im Kebabstand und rief seine Schwester an: «Schliess dich ein, lass niemanden rein!» Dann rannte er in Todesangst zur Regionalwache Wiedikon und erzählte den Beamten diese Geschichte.


Mehrere Frauen zu haben, ist normal
«Setzen Sie sich», ordnet der Richter an. Goran U. gehorcht. Und erhebt sich zur Beantwortung der nächsten Frage erneut. «Ich habe Respekt vor dem Gericht», erklärt der 51-Jährige, weshalb er stehen möchte. Seine schmächtige Gestalt steckt in einem Polyesteranzug, den er sich als Ehrerbietung angezogen hat fürs Tribunal, das an diesem sonnigen Frühlingstag seinetwegen veranstaltet wird. Er legt vor Obergericht Berufung ein und fordert einen Freispruch; erstinstanzlich war er wegen versuchter Anstiftung zu mehrfachem Mord für schuldig befunden und zu sechseinhalb Jahren Haft, inklusive der widerrufenen Bewährungsstrafen, verurteilt worden. «Ich bin unschuldig, Herr Oberrichter», sagt er, wie handzahm. «Ich vertraue dem Schweizer Rechtssystem.» Goran U., derzeit im Gefängnis Pöschwies einsässig, Vater von fünf Kindern, ist türkischer Staatsbürger; er sagt, er sei es nur offiziell, in Wirklichkeit sei er Kurde. Vor 21 Jahren kam er mithilfe von Schleppern in die Schweiz und erhielt Asyl. Eine Schule hat er nie besucht, er ist Analphabet und spricht kein Deutsch. Der Übersetzer übersetzt, dass Herr Goran als Gipser gearbeitet habe, seine Stelle verlor und die Familie seither von der Sozialhilfe lebe. Seine Frau habe sich 2010 von ihm scheiden lassen, «ihre Familie will mich kaputt machen, Herr Oberrichter», sagt Goran. «Sie haben einen Komplott gegen mich geschmiedet.» Warum sie das tun sollten, will der Richter wissen. «Das Drama fing an, als ich meine zweite Frau in die Schweiz holte.» Goran hatte während einer Reise in die Islamische Republik Iran eine um viele Jahre jüngere Frau religiös geheiratet («Es ist normal, mehrere Ehefrauen zu haben») und sie nach Zürich gebracht, wo sie mit ihm, seiner ersten Frau und den vier Kindern lebte. Flugs kam ein fünftes dazu. Das habe ihm seine Erstfrau und deren Familie nie verziehen. Und bald schon hätten die beiden Frauen sich gegen ihn verschworen, ihm das Leben zur Hölle gemacht. Während einer Reise in die Türkei wurde er verhaftet und fünf Jahre eingekerkert, aus politischen Gründen, sagt er. Weil er jemanden erschossen habe, sagen andere. Wunderbar, sagten die beiden Frauen, endlich Ruhe. Das Zusammenleben mit Goran war geprägt von Gewalt. Einmal soll er seine damals 14-jährige Erstfrau angeschossen haben, weil sie nicht für ihn kochte. Er ging ihr immer wieder an den Hals, stiess sie gegen den Kühlschrank, gab ihr Ohrfeigen. Jahrelang hatte sie eine Frauenberatungsstelle aufgesucht, aber schliesslich resigniert und sich ihrem Schicksal ergeben. Vom Vorwurf, seine Zweitfrau vergewaltigt zu haben, wurde er allerdings freigesprochen. Doch selbst den minderjährigen Sohn habe er beauftragt, seine Mutter umzubringen, wie dieser selbst ausgesagt hatte. «Ein grosses Missverständnis», versichert Goran. «Schauen Sie, er sitzt im Publikum, er hält zu mir.» Ein junger Bursche mit Baseballmütze hebt kurz den Kopf von seinem Computerspiel und klickt weiter.


Für Mitteleuropa unvorstellbar
Gorans Verteidiger zeichnet das Bild einer Verschwörung: Mit der Verurteilung hätte die Familie der Ex-Frau gleich zwei Fliegen auf einen Streich geschlagen: Herr Goran sei bis auf weiteres aus dem Weg, und sie müssten die Schulden nicht mehr zurückzahlen.


Für das Obergericht sind die Schilderungen des Ex-Schwagers jedoch «lebensecht»; es bestätigt das erstinstanzliche Urteil. Von einem Ehrenmord will es aber nicht sprechen, auch wenn der Konflikt «vor einem kulturellen Hintergrund stattgefunden hat, der für Mitteleuropa unvorstellbar ist». Herr Goran habe nicht aus verletzter Ehre gehandelt, sondern mache einfach immer andere für seine ­eigene Misere verantwortlich.


* Alle Namen geändert.

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