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Reportage

Gemeinsam sind sie am Puls: Redaktorin Maja Zivadinovic (vorne im Bild), die Lernende Selvi Oezcan, Lehrling Valorina Morina, Pharma-Assistentin Montse Anaya und Geschäftsführerin und Apothekerin Raquel Martinez (nach links). Bild: Nicolas Y. Aebi

Treffpunkt Langstrassen-Apotheke

Von: Maja Zivadinovic

10. Juli 2018

AM PULS Die Paracelsus-Apotheke an der Langstrasse 122 ist viel mehr als eine gewöhnliche Apotheke. Hier treffen Prostituierte auf Schwule, Neureiche auf Junkies und Bedürftige auf Senioren. Im Zentrum steht ein Team mit viel Herzblut. Ein Augenschein vor Ort an einem gewöhnlichen Montagnachmittag.

«Hola Raquel», tönt es im Zweiminutentakt in der Paracelsus-Apotheke an der Langstrasse 122 im Kreis 4. Raquel Martinez, 39, ist die Geschäftsführerin hier. Die studierte Apothekerin ist aber viel mehr als eine gewöhnliche Chefin. «Manchmal bin ich Dolmetscherin, manchmal Seelsorgerin, manchmal einfach Zuhörerin», meint sie. Seit elf Jahren arbeitet Martinez in der Milieu-Apotheke. «Langweilig wird es nie», sagt sie über ihren Job. Seit 2008 amtet Martinez als Geschäftsführerin. «Wenn der Inhaber will, bleibe ich bis zu meiner Pensionierung.»

Früher arbeitete Martinez in einer edleren Apotheke, in der Luxusartikel verkauft wurden. Die Schickimicki-Klientel habe ihr weniger zugesagt als die bunte Kundschaft hier.

Der Ladyboy, der an diesem Montagnachmittag um 15.30 Uhr «Hola Raquel» ruft, ist gekommen, um Haarfärbemittel zu kaufen. Wie zwei alte Bekannte plaudern Martinez und der Sexarbeiter über die Ladentheke hinweg. Der nächste Kunde, ein Mann, zierlich, schwul, steuert direkt das eine Gestell an. Hier gibts Kondome in Hunderter­packungen, Gleitmittel in XL-Flaschen und sonst alles rund um Sex. Der Mann greift zum Gleitmittel, stellt sich an die Kasse, begrüsst das Team von Martinez ebenfalls auf Spanisch und mit einem breiten Grinsen. Allgemein fällt hier auf, dass kaum Deutsch gesprochen wird. «Das ist wahr», bestätigt Martinez. «Wir bieten Beratungen und Verkaufsgespräche auf Spanisch, Serbisch, Albanisch, Türkisch und Mazedonisch an. Und natürlich auf Deutsch», erklärt sie lachend.

Nun kommt eine junge Frau herein. Sie atmet schwer und klagt über starke Bauchkrämpfe. Martinez’ Team fängt die Kundin auf, nimmt sie mit ins Hinterzimmer und gibt ihr ein Schmerzmittel. Kurz wirds hektisch: Laut Aussage der Kundin gibt es keine Angehörigen, die kontaktiert werden können, um sie abzuholen. Martinez bespricht sich mit ihrem Team: Soll ein Krankenwagen gerufen werden oder nicht? Das Problem: Der Patient muss die Kosten selber tragen. Die Kundin will keine Sanität. Also kümmert sich Martinez’ Team um sie, bis das Schmerzmittel wirkt und die Frau genug stabil ist, um zu gehen. «Solche Situationen können herausfordernd sein.» Vor allem an Tagen wie heute. Es sind nur zwei Apothekerinnen, eine Pharma-Assistentin und zwei Lernende da. Die eine ist gerade unterwegs zum Paradeplatz, um einem Mann seine Medikamente zu bringen. «Für Stammkunden liefern wir gerne auch einmal aus, wenn sie keine Zeit haben, um persönlich vorbeizukommen.»

Cómo estás?», tönt es wieder vom Ladeneingang her. «Muy bien, gracias» – «Sehr gut, danke», sagt Martinez. Die Kundin, eine Prostituierte, braucht Medikamente. Ein Krankenkassenchärtli hat sie nicht dabei. Zur Lernenden gewendet, winkt sie ab: «Raquel kennt mich.» Martinez lächelt, alles gut. Der nächste Kunde ist ein Mann über 50. Er trägt eine Bundfaltenhose, ein kariertes Hemd und eine Krawatte. Er verschwindet mit einer Apothekerin hinter die Ladentheke. Keine halbe Minute später ist er weg. «Ein trockener Alkoholiker», sagt Martinez. Der Kunde müsse täglich vorbeikommen, um unter Aufsicht sein Antabus einzunehmen. Dabei handelt es sich um ein Medikament, das Ex-Alkoholikern oft zum Selbstschutz verabreicht wird.

Die nächste Kundin, eine junge Quartierbewohnerin Typ Yuppie, will dem Rauchen abschwören. Die Pharma-Assistentin nimmt sich Zeit für eine umfassende Beratung. Am Ende verlässt die Frau die Apotheke mit Nikotin-Kaugummis und viel Motivation.

«Der Umgang ist sehr respektvoll, offen und unkompliziert.»

Letztens sei eine Prostituierte in den Laden gekommen, die schon lange nicht mehr da war. Auf die Frage, wo sie denn gewesen sei, habe sie unverblümt mit «Ein Jahr in U-Haft» geantwortet, erzählt Martinez. Natürlich, im ersten Moment könne der Eindruck entstehen, dass hier alles etwas merkwürdig sei. «Dem ist aber nicht so», betont Martinez. Die Klientel an der Langstrasse 122 sei bunt, herzlich, sehr offen, sehr echt. Das gefalle ihr am meisten. Dennoch werde sie oft gefragt, ob sie nie Angst habe. «Kein bisschen», sagt sie stets. Der Umgang hier sei sehr respektvoll, offen und unkompliziert. Natürlich komme es vor, dass mal jemand etwas klaut. «Das ist aber überall so und hier nicht anders oder schlimmer als in anderen Läden an edleren Adressen.»

Vor der Paracelsus-Apotheke hängt ein Regenbogenfähnchen, das Markenzeichen der LGBT-Community. Aufgehängt hat es Daniel Reitzer, Inhaber der Apotheke und selber Apotheker. «Reitzer, selber schwul, ist ein Vorreiter der Community. Schon seit 20 Jahren setzt er sich für die LGBT-Community ein», fügt Martinez an. So kommt es, dass das Team rund um Martinez auch besonders gut in Sachen HIV und HIV-Medikamente geschult und informiert ist. «In der Szene weiss man, dass man sich mit seinen Fragen und Anliegen jederzeit an uns wenden kann. Oft sind wir die Ersten, die geschult werden, wenn neue Medikamente auf den Markt kommen.»

«Hola Raquel», tönt es wieder hinter dem Kosmetikgestell. Drei knapp bekleidete Frauen sind auf der Suche nach neuen Lippenstiften. Auch hier kann Martinez’ Team helfen. Nun betritt ein alter Mann den Laden. Er wurde auf der Strasse von zwei Frauen angerempelt und ist aufgelöst. Die Lernende Valorina Morina bietet ein offenes Ohr und spendet Trost.

Die drei Frauen haben ihr Posti-Chörbli gefüllt, zahlen, lachen und verabschieden sich mit Luftküsschen: «Tschau Chicas, bis nächste Male!»

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