Reportage

Die ehemalige Seidenzwirnerei (rechts) an der Hammerstrasse. Bild: Helena Wehrli
Von der Industrie- zur Wohnstrasse
Von: Urs Hardegger
Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt in einer Serie jede zweite Woche eine solche Story. Heute: Die Hammerstrasse.
Auf den ersten Blick nicht besonders aufregend, die Hammerstrasse, in der Senke zwischen Botanischem Garten, Forchstrasse und Zelglihügel. Doch sie hat Überraschendes zu bieten. Denn wer würde vermuten, dass der Wildbach, dem die Strasse die Biegung verdankt, einst ihre Geschichte bestimmte?
Die Nutzung seiner Kraft ermöglichte gegen Ende des 17. Jahrhunderts Fortschritt und Innovation. Nicht nur der Schmiedehammer am oberen Ende, an welchen der Strassenname erinnert, wurde durch sein Wasser angetrieben. Eine eigentliche Protoindustrie entwickelte sich entlang von Hammer- und Drahtzugstrasse: Ölmühle, Stampfe, Schleiferei, Farbholzmühle, Seidenzwirnerei, mechanische Werkstätte, Weberei, Dreherei und Knopfmacherei waren noch im 19. Jahrhundert hier zu finden.
Hochburg der Seidenfabrikation
Ein hochwassersicheres Bachbett raubte dem Wasserlauf seine Wildheit. Von seinem Wirken blieben nur wenige Spuren erhalten, das Fabrikgebäude der Seidenzwirnerei im unteren Abschnitt ist eine davon. Bis nach Österreich und Sachsen lieferte das Werk einst seine robusten Fäden. Die Fabrik war Teil einer Seidenindustrie, die Zürich internationale Geltung verschaffte. Über 90 Seidenunternehmen waren in der Region in Betrieb, bis Anfang des letzten Jahrhunderts der Niedergang des krisenanfälligen Gewerbes einsetzte. Das endgültige Aus für das Werk an der Hammerstrasse kam mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre.
Mit der Ausbreitung der Elektrizität und der fossilen Energie verlor der Bach seine Bedeutung, gleichwohl hatte die Strasse einen dörflichen Charakter bewahrt. Noch in den 1930er-Jahren sieht man auf Fotografien Kinder auf dem Asphalt spielen, befahren nur wenige Fuhrgespanne und Motorfahrzeuge die Strasse. Von der Mobilität unserer Tage war man noch weit entfernt, Arbeiten, Einkaufen und Wohnen lagen nah beieinander, mussten in Fussdistanz erreichbar sein. Zu diesem Zeitpunkt war die Umgestaltung zur Wohnstrasse bereits weit fortgeschritten, Zürichs Bedeutung als Industriestandort am Schwinden.
Eine Häuserzeile versperrt heute die Sicht auf den Bach. Unvergänglich und zeitlos strebt er dem See zu, während unweit von ihm an der Strasse das moderne Leben Einzug gehalten hat. In den Erdgeschossen ersetzen Coiffeursalons, ein Take-away, eine Kinderkrippe und ein Nachhilfestudio die früheren Läden des täglichen Bedarfs. Die hohe Verkehrsbelastung im unteren Strassenteil ist der Preis der Mobilität.
Beliebt bei der Mittelschicht
Geändert hat sich ausserdem die soziale Zusammensetzung. Vorbei die Zeiten, als Familien und Wohlhabende in die Agglomeration flüchteten. Die Stadt als Lebensraum ist wieder attraktiv geworden. Eine neue emanzipierte Mittelschicht hat sich ausgebreitet, gut gebildet, relativ wohlhabend, tendenziell eher ökologisch und sozial denkend. Auch sie verspürt den «Citydruck», der sich auf die Mieten niederschlägt. Glück hat, wer sich eine Genossenschaftswohnung oder eine Wohnung der A-Porta-Stiftung ergattern konnte.
Doch gerade in der Hektik des städtischen Lebens hat der Wildbach als ruhige Oase, als Teil eines natürlichen Lebensraumes für Mensch und Tier seine Bedeutung nicht verloren.
Quellen: Stadt Zürich: Quartierspiegel Kreis 7; Zürcherische Seidenindustrie-Gesellschaft: Sieben × Seide. Baden 2004.
Lesen Sie am 26. November den Beitrag über den David-Hess-Weg.
Artikel bewerten
Leserkommentare
Keine Kommentare