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Reportage

Wenn eine Wunde nicht mehr verheilt

Von: Ginger Hebel

20. Juni 2016

Chronische Wunden: Betroffene leiden unter Schmerzen und Schamgefühlen. Wundexpertin Slavica Markovic behandelt täglich Menschen mit chronischen Wunden und hat jetzt eine Selbsthilfegruppe in Zürich initiiert.

Rosemary erinnert sich haargenau an den Abend, als sie Freundinnen zu Besuch hatte und ihr Mann für die Damen kochte. «Da sagte er plötzlich: ‹Schau mal, mein Bein ist ganz blau.›» Sofort fuhren sie unter Protest von Heinz ins Spital. «Ich hatte Angst, dass ich eine Blutvergiftung bekomme», erzählt er. Begonnen hat alles mit einer Thrombose im Bein. Der Staudruck führte zu Blasen an den Füssen, «sie waren so gross wie halbe Pfirsiche», sagt Heinz und zeigt Fotos. Die geplatzten Blasen führten zu offenen Beinwunden. Sein Hausarzt war mit den infizierten, tiefen Wunden an seinen Füssen überfordert, also begab sich Heinz in die spezielle Wundpflege in der Klinik Hirslanden. «Höchste Alarmstufe», sagten die Wundexpertin und die Ärzte. Es war so schlimm, dass man ihm an beiden Füssen je eine Zehe amputieren musste. «Ich spüre beim Gehen nicht, dass mir je eine Zehe fehlt», sagt Heinz. Als man ihm dann aber auch noch die grosse Zehe abnehmen wollte, wehrte er sich vehement dagegen.

Seit ein paar Monaten lässt er sich am Interdisziplinären Gefässzentrum der Klink Hirslanden behandeln. «Ich kann zuschauen, wie die Wunde von Mal zu Mal mehr zuwächst», freut er sich. Slavica Markovic ist Wundexpertin und behandelt seit Jahren Menschen mit chronischen Wunden. Sie reinigt sie professionell, wechselt die Verbände, und polstert mit Lammwolle.

Früher taten Heinz die Füsse nie weh. Als Bauingenieur auf Gebirgsbaustellen und im Stollenbau im Kraftwerk von Lienne VS verrichtete er jahrelang körperliche Schwerstarbeit. «Ich arbeitete 160 Meter tief im Vertikalschacht», erzählt er. Erst mit siebzig bekam er Probleme mit seinen Beinen. Weil er an Durchblutungsstörungen leidet, verheilen bei ihm Wunden nur sehr langsam. Die verstopften Blutgefässe, so die Ärzte, kämen vom vielen Rauchen. Zwei Päckli Zigaretten rauchte er früher pro Tag. Mit dreissig hörte er auf, gönnte sich ab und zu aber noch eine Brissago und eine Pfeife, «was man halt so raucht auf dem Bau». Bereuen tut er es nicht, «man hat damals noch nicht so genau gewusst, was das für Konsequenzen haben kann». Er geniesst das Leben trotz Einschränkungen beim Gehen. «Wir kochen und essen gern, das geht auch gut im Sitzen», sagt er lächelnd.

Immer an seiner Seite ist seine Rosemary, sie haben bisher alles zusammen durchgestanden, sind 62 Jahre verheiratet. «Das kommt schon wieder gut», gibt sie sich optimistisch. Sie erzählen gern von früher, als sie Segeltörns in der Karibik anboten und im Paradies Gäste bewirteten. Jahrelang haben sie in Venezuela gearbeitet. «Wer dort ins Spital geht, muss alles mitbringen, Desinfektionsmittel und Medikamente. In der Schweiz hingegen fühlt man sich sehr gut aufgehoben», sind sich die beiden einig. In zwei bis drei Monaten sollen die Wunden an seinen Füssen verheilt sein, dann möchte der 87-Jährige sein Knie operieren lassen. Die Arthrose hat es deformiert, er braucht ein künstliches Kniegelenk, «aber es lohnt sich bestimmt. Jetzt habe ich Schmerzen bei jedem Schritt.»

 

"Eine Wunde ist keine Krankheit"

Frau Markovic, wann spricht man von einer chronischen Wunde?

Slavica Markovic: Wenn sie innert vier bis zwölf Wochen unter fachgerechter Therapie nicht zu heilen beginnt. Am wichtigsten sind die Abklärung und die Behandlung der Wundursachen. Eine Wunde ist per se keine Krankheit, deswegen ist es notwendig, bei Patienten mit chronischen Wunden am Bein eine venöse und arterielle Untersuchung durchzuführen. Auch bei akuten Wunden, z. B. nach einem Unfall oder nach einer Operation, welche innert dreier Monate nicht verheilt sind, ist es wichtig, sie als chronisch zu definieren und die Ursachen zu suchen.

Verheilt eine Wunde bei jeder Person anders?

Nein, bei manchen verheilt sie zwar schneller, bei anderen langsamer. Doch die drei Stadien der Wundheilung sind bei allen gleich; wir sprechen von der Reinigungsphase, der Granulationsphase und der Phase der Hautbildung. Eine akute Unfallwunde verheilt im Normalfall schneller, abhängig von der Wundgrösse und -tiefe wie auch vom Körperteil. Es kommt aber darauf an, ob die obere Hautschicht betroffen ist oder ob die Wunde tiefer geht, bis zu den Faszien oder sogar bis auf den Knochen. Operationswunden hingegen verheilen schnell, da sie unter sterilen Bedingungen zugeführt wurden.

Kann man eine Wunde selber behandeln?

Es kommt auf Art und Grösse an. Eine kleine Unfallwunde sollte man zuerst säubern und desinfizieren und dann beobachten. Wenn nach spätestens drei Tagen keine Besserung eintritt, sollte man zum Hausarzt gehen. Leider warten viele, bis Infektionen entstehen.

Warum haben Sie eine Selbsthilfegruppe zu diesem Thema initiiert?

Weil viele betroffen sind und sich damit alleine fühlen. In der Selbsthilfegruppe können sie sich und andere unterstützen.

Infos: Tel. 043 288 88 88 oder www.selbsthilfecenter.ch

 

Sie hatten einen Unfall, wurden Opfer eines Verbrechens oder erlitten andere Schicksalsschläge? Melden Sie sich bei uns. ginger.hebel@tamedia.ch

 

 

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