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Reportage

Charleston, Absinth und viel Anstand: An der «Bohème Sauvage» tauchten die Gäste in das Berlin der 20er-Jahre ein. Bilder: Mischa Scherrer

Wertes Fräulein, darf ich Sie zum Tanz bitten?"

Von: Clarissa Rohrbach

14. Oktober 2014

Die Party «Bohème Sauvage» im Kunsthaus liess am Samstag das Berlin der 20er-Jahre aufleben. Das «Tagblatt» mischte sich unter die Damen und Herren. Fazit: Anstand ist sexy.

«Nicht so schüchtern, meine verehrten Herren. Laden Sie die Damen zum Tanz ein. Sind sie nicht zauberhaft, diese Kreaturen der Nacht?» Die Laszivität in Erna Pachulkes tiefer, gehauchter Stimme verspricht eine rauschende Nacht und vielleicht noch mehr. Eine Conférencière wie sie gehört zu den Goldenen Zwanzigern genauso wie Federboas und Gangsterhüte. Doch wer an diesem Samstagabend meinte, im Kunsthaus finde eine simple Verkleidungs­party statt, musste mit missbilligenden Blicke rechnen. Denn was zählte, war die Attitüde, da gab es kein Pardon.


Damen, die ihre dramatischen Blicke hinter einem Fächer verstecken, und Herren, die ihnen mit gekonnten Handbewegungen ein Glas Champagner reichen: Solche Bilder kennt man von Filmen. Doch wie fühlten sich «les années folles» – die verrückten Jahre –, wie man in Paris zu sagen pflegte, wirklich an? Diese Zeit der Umwälzungen, als in New York, London und Berlin erstmals Telefone in Wohnzimmern klingelten, Arbeiter in Warenhäusern einkauften und Filmstars die Masse mit dem Traum eines Lebens blendeten, in dem alles möglich schien?


Selbstbewusst, befreit, elegant. Vor allem die Damen, die sich im nachgestellten, verruchten Club der Weltstadt Berlin wie auf Samt bewegen und manchem Herrn den Kopf verdrehen. Einige tragen einen Bubikopf, andere halten einen endlos langen Zigarettenhalter. «Die neue Frau»: Hörten die Konservativen dieses Schlagwort, rümpften sie die Nase. Tabak und kurze Haare, das waren bislang Tabus für das schwache Geschlecht gewesen, geschweige denn arbeiten und abstimmen.


Doch hier verkehren selbstverständlich nur modische und aufgeklärte Menschen. Die Herren scheuen sich  nicht, an die Schönsten Depeschen zu verschicken, auf denen steht: «Darf ich Sie im Séparée treffen?» Und die Damen wagen, mit einem «Ja, aber machen Sie sich bitte keine Hoffnungen» zu antworten. Ob die Keckheit die Gäste so beflügelt? Oder liegt es daran, dass niemand an seinem Handy fummelt? Das wäre ausser Zweifel ein unverzeihlicher Fauxpas im Jahr1925. Jedenfalls ist das Eis schnell gebrochen. Zu Livebläsern und -geigen tanzt die noble Gesellschaft Charleston, Foxtrott, Walzer, Tango. Ein Glas zerbricht, doch die Hosenträger sitzen, und die Fransenkleider wippen.


Man googelt «20er-Jahre»
Um 22 Uhr, als die Taxis vor dem Kunsthaus vorfuhren und die Gäste mit Fliege und Perlenketten ausstiegen, waren wir noch im Jahr 2014 und fühlten uns etwas bange. Wer zu der kleinen Gesellschaft gehört – rund 300 Leute –, fühlt sich privilegiert. Für den Anlass wird kaum Werbung gemacht. Dafür Wochen im Voraus das Outfit vorbereitet. Man sitzt zu Hause, googelt «20er-Jahre» und fragt sich, ob die Leute damals wirklich nur Schwarz und Weiss trugen. Ich entscheide: Nein, dass es daran liegen muss, dass der erste Farbfilm erst 1936 entwickelt wurde, und entscheide mich für eine blaue Feder auf dem Kopf. Ich hoffe, nicht gepfuscht zu haben. Sonst beäugen einen die anderen Damen, als habe man ein kapitales Verbrechen begangen. Sie haben mindestens zwei Stunden vor dem Spiegel verbracht, kein Haar fällt aus der Wasserwelle.


Auch nicht bei Petunia La Roche, einer Dame von Welt, die gerne Champagner und schöne Dinge mag, der Organisatorin des Anlasses. Die Zürcherin hat die «Bohème Sauvage» hierhergebracht. Die «Gesellschaft für mondäne Unterhaltung» traf sich das erste Mal 2004 in einem Berliner Wohnzimmer. Die Initiatorin Else Edelstahl exportierte dann ihre glamouröse Party nach Hamburg, Köln und Wien. La Roche lädt ihre Gäste zum vierten Mal ein, die Anzahl hat sich in anderthalb Jahren verdoppelt. Sie bezeichnet sich als «Vintage Girl», sie möge die raffinierte Mode und die Umgangsformen der 20er-Jahre. «Haben Sie in Zürich schon so viele schöne Leute auf einmal gesehen? Ich wünsche Ihnen eine rauschende Nacht.»


Und tatsächlich: Die guten Manieren fallen auf. Die Herren lassen den Damen den Vortritt und halten ihnen Türen auf, was wiederum für entzücktes Lächeln sorgt. Trotz strenger Regeln knistert es, oder vielleicht gerade deswegen. Man fragt sich, wieso genau Frauen heuer in den Clubs so heftig mit ihrem Hinterteil wackeln, als hätten sie kein Gesicht mehr, um «Hallo» zu sagen.


Doch schliesslich füllt sich auch das Kunsthaus mit Lust. Die Burlesquetänzerin Janet Fischietto, die «den Herren den Atem verschlägt», saugt neckisch an einer Zigarre und danach an einer Banane. Und dann gehts richtig los. Hinter dem Bauchladenfräulein, das Käufer für seine Rauchwaren und Sockenhalter sucht, schlingen sich Hände um die Taillen. Am Roulettetisch streichen sich einige Herren den Schnauz, weil sie gerade ihre Reichsmark verspielt haben. Andere kaufen sich damit einen Absinth. Kaum hat die blaue Flamme das Zückerchen geschmolzen, kippen sie das Glas und wirbeln gestärkt wieder auf die Tanzfläche.


Tief in der Nacht ist der Champagner ausgetrunken und der Boden nur noch von Federn belegt. Die Party erlischt, wie sie es damals 1929 nach dem Schwarzen Donnerstag an der Wallstreet tat. Seine Spannungen konnte Deutschland nicht wegtanzen: Sie endeten in einem zweiten Weltkrieg. Gut haben sich die Damen und Herren von Welt wieder ins ­Zürich von 2014 verzogen.

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