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Reportage

Die Stadtzürcher Architekturgestalter Alesch Wenger und Florentina Gojani haben ein Tiny House gebaut. Eine komplett ausgestattete 1-Raum-Wohnung auf 17 Quadratmetern. Bilder: Nicolas Y. Aebi

Wohnglück im Miniformat

Von: Ginger Hebel

04. August 2020

Leben im Minihaus. Eine Wohnform, die den Nerv der Zeit trifft. Die Zürcher Architekturgestalter Florentina Gojani und Alesch Wenger haben das Tiny House Immergrün geplant, gebaut und testen es seit zwei Jahren. Ihr grösster Meilenstein: die Bewilligung als Wohnungsbau in der Stadt Zürich. 

Ein grasgrünes Minihaus auf einer Brache in Altstetten. Florentina Gojani öffnet strahlend die Tür des mobilen Heims. Mit ihrem Partner Alesch Wenger hat sie es entworfen und gebaut. Seit zwei Jahren nutzen es die Zürcher Architekturgestalter – sie nennen sich Kollektiv Winzig – als Testobjekt, um herauszufinden, ob sich darin dauerhaft wohnen und arbeiten lässt. Ihr Fazit: hervorragend. Ihr Tiny House ist eine komplett ausgestattete 1-Raum-Wohnung auf 17 Quadratmetern.

Alesch Wenger, ein ambitionierter 35-jähriger Architekt, hat sich auf das Bauen und Planen von Kleinwohnformen spezialisiert, auf Einheiten mit höchstens 40 Quadratmetern Gesamtfläche. Die kompakten Häuschen erfüllen sämtliche hygienischen Bedingungen, verfügen über Toilette, Wasch- und Kochgelegenheit. Sie haben kein festes Fundament und sind somit orts- und netzungebunden. Wenn sie wollten, könnten Florentina und Alesch ihr Haus auf der Autobahn bis nach Andalusien transportieren und im Süden überwintern, «diese Flexibilität bedeutet Lebensqualität».

Neue Wohnformen leben

Seit sieben Jahren sind Florentina und Alesch ein Paar. Beide lebten früher in getrennten Stadtwohnungen, «am Ende des Monats hatten wir nie viel Geld übrig», erzählt Florentina. Sie erstellten Listen mit sämtlichen Ausgaben, weil sie wissen wollten, wofür sie ihr Geld wirklich ausgeben. «Beim Wohnen lässt sich am meisten Geld sparen», sind sie sich einig. Sie gaben ihre Wohnungen auf und trennten sich von vielen Möbeln. Heute teilen sie sich ein WG-Zimmer und testen das Minihaus als Wohnform der Zukunft. Ihr grösster Meilenstein: Das Tiny House Immergrün hat die Bewilligung als Wohnungsbau in der Stadt Zürich erhalten. «Damit sind die Weichen für eine langfristige Wohnnutzung in der Schweiz gestellt, das freut uns sehr.»

Alesch Wenger ist Vorstandsmitglied im Verein Kleinwohnformen Schweiz mit 1200 Mitgliedern, Tendenz steigend. Sie setzen sich dafür ein, dass neue Wohnformen einfacher realisiert werden können. Derzeit geben rund 180 Mitglieder an, minimalistisch und autark zu leben, in Wohnwagen, Tiny Houses oder Jurten. Die Baubiologin Tanja Schindler lebt ihren Traum und bewohnt in Altdorf UR ein Ökominihaus. Im aargauischen Merenschwand wurde ein Pionierprojekt für eine kleine Minihaus-Siedlung bewilligt.

«Ein Baugrundstück zu finden, ist die grösste Hürde», sagt Alesch Wenger. Dies bestätigt auch Ulrich B. Mayer, Direktor Amt für Baubewilligungen. «Wir sind bestrebt, das Bauen in der Stadt Zürich zu ermöglichen, auch innovative Wohnformen haben ihre Berechtigung. Das Problem ist nur, dass es in der Stadt kaum noch freie Flächen gibt.» Das Kollektiv Winzig sucht deshalb Grundstückbesitzer, die ihr Land verpachten oder Bauland verkaufen. Aktuell bieten sie eine kostenlose Evaluation an und erklären, wie sich eine Parzelle nachverdichten und Mieteinnahmen generieren lassen. Albert Leiser, Präsident des Hauseigentümerverbands Stadt und Kanton Zürich, steht dieser Entwicklung positiv gegenüber. «Minihäuser sind eine spannende Wohnform, die es zu unterstützen gilt. Eigentum bedeutet Freiheit, egal, ob es sich um festes Mauerwerk oder ein mobiles Holzhaus handelt.» Der HEV plant, Grundstückbesitzer und angehende Minihaus-Bewohner zusammenzubringen und gemeinsame Lösungen zu finden. «Wegen Corona haben wir das Projekt noch nicht in Angriff genommen, es steht aber ganz oben auf unserer Liste», sagt Albert Leiser.

Tiny Houses könnten eine Ergänzung zur geplanten Verdichtung in der Stadt Zürich sein. Kleine Häuser könnten dort gebaut werden, wo für grosse kein Platz ist. Weil viele von ihnen mobil sind, lassen sich auch Brachen zwischennutzen. Ein gutes Beispiel ist die temporäre Siedlung Fogo in Altstetten. Sie ermöglicht Flüchtlingen, jungen Erwachsenen in Ausbildung sowie Kreativen Wohn- und Arbeitsraum in ökologischen Holzmodulbauten.

«Die kleinen Behausungen lenken den Geist zum Ziel, die grossen lenken ihn ab», sagte einst Leonardo da Vinci. So sehen es auch Florentina und Alesch. Sie haben ihr Herz längst an ihre kleine Bleibe verschenkt. Verkaufen würden sie ihr individualisiertes Häuschen nicht, doch der Architekt und die Projektmanagerin helfen bei der Planung und dem Bau eines Tiny House. Kostenpunkt: Rund 150 000 Franken. «Der Wunsch, nachhaltig und minimalistisch zu leben, ist besonders bei der jüngeren Generation ausgeprägt.» Sie haben ein stromautarkes Objekt gebaut, und sie sind stolz darauf. «Es ist ein grossartiges Gefühl, etwas für die Umwelt und das Klima zu tun.» Die Solaranlage auf dem Dach liefert auch an düsteren Tagen genügend Strom. Sie dient zudem zur Warmwasser-Aufbereitung, zur Kühlung und Lüftung und der Ladung elektronischer Geräte. Laut 2000-Watt-Rechner haben sie den Primärenergieverbrauch beim Wohnen um 90 Prozent gesenkt, der ökologische Fussabdruck hat sich nahezu halbiert. Die Brache in Altstetten verfügt über einen versiegelten Boden mit Betonplatten, Frischwasser beziehen sie vom Aussenhahn. Brauchwasser vom Abwasch und Duschen sammeln sie und entleeren es in die Kanalisation. Die Toilette verfügt über ein spezielles Verglühsystem. Exkremente verdampfen zu Asche.

Ihr Prototyp ist aus hellem Birkensperrholz gefertigt. Die Innenausstattung ist durchdacht, mit zahlreichen Ablage- und Trennflächen für Gewürze und Geschirr. Unter und über dem Bett bietet sich Stauraum für Wintermäntel und Schuhe, Toilettenpapier und Werkzubehör befindet sich im Aussenschrank. Alesch Wenger kocht Kaffee. Trotz Raumknappheit verfügt das Refugium über eine praktische Einbauküche und einen Esstisch für fünf Personen. Wenn Gäste zu Besuch kommen, sitzen diese schon mal auf dem Bett, welches tagsüber als Sofa dient, mit Nischen und Kissen. Einen Fernseher besitzt das Paar seit Jahren nicht mehr, Filme flimmern über den Laptop.

Platz für grosse Möbel gibt es im Tiny House nicht, Florentina und Alesch fällt es somit entsprechend leicht, sich dem Konsumzwang zu entziehen. «Wenn der Raum fehlt, stellt sich die Frage nach neuen Gegenständen erst gar nicht.» Reduktion heisst das Zauberwort. Die beiden haben gelernt, loszulassen, sich von Dingen zu trennen, die sie nicht zwingend brauchen, «es war ein langer Prozess, doch unser persönliches Wohlbefinden hat sich sehr positiv entwickelt».

Alesch und Florentina könnten sich vorstellen, eines Tages als Familie in einem etwas grösseren Minihaus zu leben. «Die Testphase zeigt, dass es sehr gut funktioniert. Wir haben alles nah beieinander und sind uns durch das Zusammensein auf engstem Raum auch menschlich noch viel nähergekommen.»

Was ist Ihre Meinung zum Thema: echo@tagblattzuerich.ch

Weitere Informationen:

www.kollektiv-winzig.ch

www.kleinwohnformen.ch

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Leserkommentare

Erwin Bernhard - Ausgezeichneter Artikel, ausgewogen und sympathisch. Zeigt, wie man Stadt und Ökologie auf originelle Art versöhnen kann. Man wünscht den Erfindern viel Glück - auch als Paar!

Vor 3 Jahren 8 Monaten  · 
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