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Reportage

Blick von der neu gestalteten Ostseite des Tessinerplatzes auf den Bahnhof Enge. Bild: H. Wehrli

Zürichs Tor zum Süden

Von: Urs Hardegger

01. Dezember 2015

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: der Tessinerplatz.

Lärmig und rastlos, so zeigt sich der Tessinerplatz im Zentrum des Enge-Quartiers. Die Pendlerdrehscheibe vibriert in der Hauptverkehrszeit förmlich. 18 000 Fahrzeuge, 23 500 Ein- und Aussteigende muss er täglich bewältigen. Autos, Trams, Velofahrer und Passanten zwängen sich auf engstem Raum aneinander vorbei. «Bahnhof Zürich Enge» steht in weissen Lettern auf der halbrunden Fassade mit den hohen Arkaden. Darüber die Uhr, auf der zwei Bronzefiguren nach Norden und Süden zeigen. Mag die rustikale Granitbruchsteinfassade des Bahnhofs auch aus der Zeit gefallen sein, für den Charakter des Platzes ist sie wohltuend. Sie bildet einen Kontrast zur monotonen Frontseite des gegenüberliegenden Fortuna-Ge­bäu­des. Hier zelebriert ein Gebäude Grösse und ruft seine einstige Bedeutung in Erinnerung.

An Bedeutung verloren

Und diese hatte es tatsächlich. Hier befand sich nicht nur die Endstation der linksufrigen Zürichseebahn, nach der Eröffnung der Gotthardbahn wurde die Enge gegen Ende des 19. Jahrhunderts Zürichs Tor zum Süden. Von der Bahnstation Enge aus fuhren die Sommerfrischler und Kurgäste in die Bündner Berge und an die Tessiner Seen. Umgekehrt setzten hier die Fahrgäste aus dem Süden ihren ersten Fuss auf Zürcher Boden. So kam der Tessinerplatz zu seinem Namen. Doch dies alles ist Geschichte. Bei der Einweihung des heutigen Gebäudes im Jahre 1927 hatte der Bahnhof seinen Zenit bereits überschritten. Je länger, je mehr sank er zum Regionalbahnhof ab, vor einigen Jahren wurde er von den SBB vollends zum vollautomatisierten Pilotbahnhof degradiert. Eine Detailhandelskette, Take-aways, Fast Food und Spezial­geschäfte haben sich in den nicht mehr benötigten Dienstgebäuden und Schalterhallen eingerichtet.

Zu viele Ansprüche

Transitverkehr, Einkaufsort, Quartierzentrum und Tramendstation. Der Platz leidet unter den vielen Ansprüchen, denen er zu genügen hat. Schwierige Grundvoraussetzungen, um daraus auch einen Quartiertreffpunkt zu gestalten. Insbesondere die Wendeschlaufen des Trams verhindern, dass sich der Platz durch die Restaurants vom Rand her beleben könnte. Die beiden Landschaftsarchitekten Kuhn/Truninger versuchten es trotzdem und machten bei der Umgestaltung im Jahr 2006 das Bestmögliche. Mit den sechseckigen Granitfeldern unter den Platanen und der runden Holzbank haben sie einen rege benutzten Ruhepol geschaffen. Beschaulichkeit strahlt auch der rechteckige Brunnen aus, ein Geschenk der Maggiataler Gemeinden und eine weitere Referenz ans Tessin.

Vorbei die Zeiten rauchiger Quartierbeizen, auch in der Gastronomie gibt man sich nun weltoffen. «­Natürlich lokal» versprechen die einen, «Genuss pur» die andern. Hauptsache, es geht quick und die Labels der Burger- oder der Kaffeekette stimmen. Die Verpflegung hat gelernt, sich dem hastigeren Rhythmus des Arbeitsalltags anzupassen.

Ja, hoch getaktet ist der Veränderungsrhythmus an meinem Aufenthaltsort tatsächlich. Wo bis vor ­kurzem noch der Engi-Märt auf Kundschaft wartete, eröffnet nächstes Jahr die Fifa ihr Museum. Jährlich 200 000 Besucher sollen sich in der «Begegnungsstätte des Fussballs» an den Trophäen, Trikots, 3-D-Shows und den Devotionalien erfreuen. Dem mächtigen Fussballverband bleibt wenig Zeit, um bis dahin sein ramponiertes Image aufzupolieren. Fragt sich nur, ob diese Form der Nostalgiepflege überhaupt dem Bedürfnis der Fussballfans entspricht oder ob man sich nicht viel eher selbst zelebrieren möchte. Auch mit solcher Imagepflege wird der Verband wohl nicht so schnell zur Ruhe kommen. Zumindest in dieser Hinsicht ist er an diesem ­hektischen Flecken Zürichs bereits angekommen.

Quelle:
Flükiger, Samuel: Platz und Verkehr. Masterthesis HSR 2011.

Lesen Sie am 16. Dezember den Beitrag zum Caroline-Farner-Weg.

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