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Reportage

Zürichs teuerstes Pflaster: Die Bahnhofstrasse. Bild: Regula Weber

Zürichs Vorzeigemeile – eine Herkulesaufgabe

Von: Urs Hardegger

16. Mai 2017

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Bahnhofstrasse.

Der muskulöse Mann wirkt etwas verloren. Einsam ziert er am Ende des Rennwegs die Brunnensäule. Kaum jemand beachtet ihn. Dabei könnte Herkules mehr als zufrieden sein, einen nobleren Standort für eine Brunnenfigur findet sich in Zürich wohl kaum. Er steht praktisch vor den Toren des Olymps an der Zürcher Prachtallee, der Bahnhofstrasse. Der richtige Ort für einen, der stets das «Gute und wahrhaft Schöne» anstrebte. Vorbei jedoch die Zeiten, als im Himmel der griechischen Antike über Schicksal und Glück entschieden wurde. Das «wahrhaft Schöne» scheint heutzutage wohl eher in den renommierten Bankhäusern, eleganten Kleidergeschäften, Warenhäusern, auserlesenen Schuh-, Pelz-, Porzellan-, Schmuck- und Uhrengeschäften zu finden zu sein.

Glanz und Gloria will die Bahnhofstrasse ausstrahlen. Sie fehlt in keinem Reiseführer, über keine andere Strasse in Zürich wird so viel geschrieben, kaum ein Tourist lässt sie in seinen Reiseeindrücken unerwähnt. Wer sie kennt, kennt zwar noch lange nicht Zürich, trotzdem steht sie wie kaum eine andere Strasse für diese Stadt.

Paris war Vorbild

Gewaltig die Veränderungen, die Herkules erlebt hat, seit er im Jahr 1885 an seinen jetzigen Platz gestellt wurde. Einem wie ihm, der in den Kategorien einer ewigen göttlichen Ordnung denkt, musste dabei schwindlig werden. Angefangen hat es vor seiner Zeit, vor über 150 Jahren, als der Stadtarchitekt Arnold Bürkli Pläne für eine «möglichst breite und grossartige Strasse» nach Pariser Vorbild erstellte. Für eine Stadt, die zum schweizerischen Industrie- und Verkehrszentrum werden wollte, brauchte es einen spektakulären städtebaulichen Wurf. Eine wahre Herkulesaufgabe. Damit der repräsentative Boulevard entstehen konnte, mussten Teile der Stadtbefestigung abgebrochen, der Fröschengraben aufgeschüttet und das Chratzquartier planiert werden.

Herkules muss es gefreut haben, wie stark man dabei Architekturelemente aus seiner Zeit verwendete. Die klassizistische Ästhetik prägt die Strasse. Sie hat die Zeit überdauert, auch wenn sich in der Zwischenzeit viele Wohnhäuser in Büros und Verkaufsflächen verwandelt haben und Häuser ausgehöhlt wurden. Oft stimmen nicht einmal mehr die Geschosse mit der Aussenfassade überein.

Die Bahnhofstrasse ist keine Strasse zum Flanieren, zumindest für die Einheimischen nicht. Hier wird gearbeitet, gehandelt, ge­shoppt, täglich strömen bis zu hunderttausend Menschen durch sie hindurch. Die Strasse steht für Geschäftssinn, Luxus und exklusives Einkaufserlebnis. Allerdings scheint der ganz grosse Boom vorüber, hoher Frankenkurs und Onlineshopping machen dem Gewerbe zu schaffen.

Zeit für Unerwartetes

Doch losgelöst vom Einkaufen gibt es für den, der sich etwas Zeit nimmt, neben dem Wohlbekannten auch Unerwartetes zu entdecken. Zum Beispiel den gusseisernen Brunnen mit den vier Nymphen auf der Pestalozziwiese, die spektakuläre Videoinstallation von Julian Opie auf dem PKZ-Gebäude oder die ­unscheinbare Bezeichnung «Ringmauer», die ich auf einem Jugendstilportal entdeckt habe und die auf längst vergangene Zeiten verweist.

Drohend hält Herkules in der rechten Hand die Keule bereit, mit der er einst den Nemeischen Löwen in die Schranken gewiesen hat. Mit den Waffen der griechischen Mythologie lässt sich gegen den ­Wandel der Zeit nichts ausrichten: Immer mehr internationale Luxuslabels verdrängen die traditionellen Geschäfte und Warenhäuser und verstärken die Monotonie der Innenstadt. Doch sollte man Herkules nicht unterschätzen. Mit List und Kraft besiegte er die neunköpfige Hydra und mistete den Stall des Augias aus. Vielleicht findet er auch einen Weg, dass die Strasse nicht reinen Profitinteressen geopfert wird.

Quellen:
Huber, Werner: Bahnhofstrasse Zürich. Zürich 2015

Lesen Sie am 31. Mai den Beitrag zum Anny-Klawa-Platz.

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