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Album

Beni Frenkel ist Primarlehrer in Zürich.

Januarblues

Von: Beni Frenkel

16. Januar 2018

Seit 1998 lebe ich in Zürich. Meine erste Wohnung war ein Zimmer an der Bodmerstrasse. 400 Franken betrug die Miete. Die Dielen knirschten, Frauenbesuch war untersagt. Danach bin ich in die Neugut-, Guggach-, Hügel-, Balber- und – finally – Dangelstrasse gezogen.

In den letzten 20 Jahren habe ich erstaunlich wenig von Zürich gesehen. Weder war ich in einer Disco, in einem Pub oder Puff. Die Street Parade, der Sechseläuten-Umzug oder das Knabenschiessen? Kenne ich nur aus den Medien.

Und dann gibt es sogar Zürcher Quartiere, von denen ich keine Ahnung habe, wo sie genau sind. Höngg und Affoltern befinden sich irgendwo im Norden der Stadt. Wo genau liegt Hottingen? Meine Schüler wussten das immer besser als ich. Man sagt, dass man mit Kindern eine Stadt besser kennen lernt. Dank meinen Kindern weiss ich nur, wo sich Toiletten befinden.

Ich bin leider zu faul und desinteressiert, Neues kennen zu lernen. Wie häufig fahre ich an der Bahnhofstrasse vorbei und betrachte die Schaufenster von Chanel, Grieder, Louis Vuitton. Wie sieht es da wohl von drinnen aus? Lassen die mich überhaupt rein?

Auch die Zürcher kenne ich überhaupt nicht. Ich habe Hemmungen, sie im Tram anzusprechen. Da sitzt zum Beispiel eine hübsche Frau und niest die ganze Zeit. Ich bin viel zu schüchtern, ihr ein Taschentuch anzubieten. Wer weiss, wie sie diese Geste deutet. Manchmal begegne ich Menschen, die mich böse angucken. Vielleicht haben sie etwas Dämliches von mir gelesen. Vielleicht müssen sie zur Wurzelbehandlung. Ich werde es nie erfahren.

Im letzten «Tagblatt» habe ich auf Seite 39 die Todesnachrichten gelesen. Eine Frau durfte noch ihren 106. Geburtstag erleben. Ich bin gestern 41 geworden. Ich habe noch etwas vor. 

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