mobile Navigation

Gut zu wissen

«Wie ein begossener Pudel» fühlte sich Amy Bollag nach der Abfuhr. Bild: Amy Bollag

Der begossene Pudel

Von: Amy Bollag

08. Oktober 2014

Zeitskizzen: Amy Bollag (90) erinnert sich an eine intensive und äusserst schmerzvolle Bekanntschaft.

Für mich als Badener war Zürich die Grossstadt schlechthin. In der Nähe des Hauptbahnhofs befand sich das Café Hollywood. Wenn ich mir dort als Achtzehnjähriger einen Kaffee leistete, kam ich mir wie ein Grossstädter vor.

Eine hübsche Brünette war mir einige Male aufgefallen. Aber nie wäre es mir in den Sinn gekommen, sie anzusprechen. Eines Tages traf ich im Hollywood einen Freund, der meine fremde Schönheit kannte. Unglaublich für mich sassen wir nun zusammen am selben Tisch. Ich war so begeistert, es war keine Liebe auf den ersten Blick – es war Liebe.

Wir sassen lange zusammen und waren ein Herz und eine Seele. Es war schon spät geworden, und ich musste meinen Zug erreichen. Sigrun und ich hatten inzwischen schon Duzis gemacht. Tief beglückt schlenderten wir zum Bahnhof. Durchs offene Wagenfenster verabschiedeten wir uns mit Kusshändchen und verabredeten uns wieder im Hollywood. 

Am nächsten Abend begrüssten wir uns innig, unsere Augen sanken tief ineinander. Wir schienen allein auf der Welt zu sein. Wieder begleitete sie mich zum Bahnhof. Nebenbei wollte Sigrun meinen Nachnamen wissen. «Bollag heisse ich.» «Bollag?», fragte Sigrun ungläubig. Ich erlebte eine unglaubliche Veränderung in ihrem Gesicht. Bollag sei doch nicht katholisch und auch nicht reformiert, hörte ich sie sagen. «Natürlich, so ist es», antwortete ich. «Wir sind eine seit 400 Jahren im Land ansässige Schweizer Familie.» Doch mit einem Mal wurde es um mich tiefster Winter. Sigrun war nicht mehr der Mensch, den ich so freudig kennen gelernt hatte. Ich stand da wie ein begossener Pudel. Wir gaben uns nicht mal die Hand. Es geschah 1942.    

Sind Sie bei Facebook? Werden Sie Fan vom Tagblatt der Stadt Zürich!

zurück zu Gut zu wissen

Artikel bewerten

Gefällt mir ·  
Noch nicht bewertet.

Leserkommentare

Keine Kommentare