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Interview

Während der Fussball-WM 2006 entdeckten die Deutschen einen lange verschütteten Patriotismus wieder. Bilder: Clipdealer/SRF Oscar Alessio

"Deutschland duckt sich vor seiner Führungsrolle"

Von: Jan Strobel

10. Juni 2017

Am 24. September steht in Deutschland die Bundestagswahl an. Für das Zentrum Karl der Grosse schon jetzt Anlass, über den Zustand unseres grossen Nachbarn nachzudenken. Heute findet dort das «Deutschlandgespräch» mit dem Zürcher Schriftsteller und Wahl-Münchner Jonas Lüscher und dem Berliner SRF-Korrespondenten Adrian Arnold statt. Für Arnold ist es Zeit, dass Deutschland eine aktivere Rolle in der Weltpolitik einnimmt.

Der Titel Ihres aktuellen Buches lautet «Deutschland – der ängstliche Riese». Was genau ist die These dieses Buches?
Adrian Arnold: Europa wankt, die EU steckt in einer tiefen Krise. Gründerstaaten wie Frankreich oder Italien schwächeln. Die Briten stehen vor dem Austritt. In dieser schwierigen Phase soll Deutschland, wirtschaftlich stark und politisch stabil,  in Europa mehr Verantwortung übernehmen. Doch Deutschland duckt sich wegen seiner Geschichte vor einer Führungsrolle. Dabei ist Deutschland gerade wegen seiner eigenen Geschichte prädestiniert, eine Führungsrolle zu übernehmen. Weil es diese Geschichte unvergleichlich aufgearbeitet hat und dabei wie kein anderes Land in Europa ein Bewusstsein für die europäische Friedens- und Werteunion entwickelt hat.

Es gibt den Begriff der «German Angst», der gewissermassen eine kollektive Verhaltensweise der Deutschen beschreiben soll. Wie würden Sie dieses Phänomen umreissen?
Als zögerliches und ängstliches Agieren in der Aussenpolitik, vor allem, wenn eine militärische Komponente hinzukommt. Deutschland hat  sich im Irakkrieg rausgehalten. 2011 bei der von Frankreich initiierten Libyen-Intervention hat sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat enthalten. Im Syrienkonflikt blieb Kanzlerin Merkel fast stumm. Und in der Anti-IS-Koalition ist die Bundeswehr mit sechs Aufklärungsflieger und einem Schiff eher alibimässig dabei. Deutschland muss mit seiner Grösse und seiner bedeutenden Rolle in Europa mitreden und mitentscheiden, wenn es um Konfliktlösungen in der Welt geht. Es wäre längst reif, im Verbund seiner Bündnispartner eine aktivere Rolle zu übernehmen.

Der Philosoph Theodor W. Adorno sprach vom «Pathos des Absoluten» als eine Essenz des «Deutschen». Was könnte er damit gemeint haben – und wo zeigt sich das heute?
Es gibt eine Tendenz in Deutschland, dass Energien einseitig in eine Richtung gehen. Adorno kritisiert das Fehlen der Verschiedenheit. Ich glaube nicht, dass dies heute noch generell Gültigkeit hat. In der deutschen Medienlandschaft aber gibt es einen Hang zu Einseitigkeit. Gewisse Leitmedien geben heute den Takt vor und kleinere multiplizieren diese Meinung, was schliesslich zu einen Mangel verschiedener Argumente führen kann. In der Anfangsphase der Flüchtlingskrise zeigte sich das deutlich. Auch in der Bewertung des US-Präsidenten Trump oder des Brexit-Entscheids fallen die Berichte und Kommentare zu einseitig aus.

Als Aussenstehender hat man mitunter den Eindruck, die Flüchtlingskrise und die «Willkommenskultur» habe den Deutschen ein neues Identitätsgefühl gegeben, gewissermassen eine lang ersehnte «moralische Reinwaschung von Auschwitz». Die Deutschen, schrieb kürzlich ein Autor, würden an einer «Déformation psychologique», einer psychischen Deformation, leiden. Wie sehen Sie das?
Auf Deutschland lastet immer noch das Grauen dieses Kapitels der eigenen Geschichte. Und diese Geschichte ist hier nach wie vor allgegenwärtig. Sie wird den Jungen noch fast täglich und überall im Land vor Augen geführt. Dies hat sicherlich zu der Willkommenskultur im Spätsommer 2015 beigetragen. Ein neues Identitätsgefühl ist daraus aber nicht entstanden. Eine déformation psychologique ist ein hartes Urteil. Ich würde eher sagen,  Deutschland tut sich in seinem Handeln noch immer schwer aufgrund seiner Vergangenheit. Entscheidungsträger zögern oder agieren ängstlich, weil sie glauben, dass Deutschland gewisse Dinge nicht  tun dürfe. Deutschland muss diese Angst ablegen und mit den Erkenntnissen und den Lehren aus seiner Geschichte endlich wieder verantwortungsvoll und selbstbewusst zugleich agieren.

Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands im heutigen Europa?
Ich sehe Deutschland als Antriebsmotor, Ideengeber und Organisator, das unter demokratischem Miteinbezug aller EU Staaten den Reformprozess der EU vorantreiben soll. Zum Erhalt der Friedens- und Werteunion.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird immer noch gerne als «Mutti» bezeichnet. Was sagt das über das Wesen dieser Frau aus? Und über den Umgang der Deutschen mit der Person Merkels?
Seit Merkel in Deutschland regiert, geht es wirtschaftlich kontinuierlich aufwärts. In ihrer Amtszeit ist das Land vom Patienten Europas zur Wirtschaftsmacht mit der tiefsten Arbeitslosenquote in der EU aufgestiegen. Auch wenn es nicht allein Merkels Verdienst ist, die Menschen vertrauen ihr einfach, sagen: «mit Mutti wird’s schon». Sie regiert unaufgeregt, pragmatisch und skandalfrei. Eine grosse Mehrheit der Deutschen fühlt sich bei Ihr gut aufgehoben. In der Flüchtlingskrise hat sich allerdings ein nicht wesentlicher Teil von Mutti abgewandt. Jetzt ist in dieser Frage wieder einigermassen Ruhe eingekehrt und viele der sich Abgewandten scheinen zu Mutti zurückzukehren. Sie ist in den Augen vieler momentan alternativlos. Genauso wie die Grosse Koalition in der sie regiert.

Ist die Rede von der «Alternativlosigkeit» nicht eine Gefahr für eine lebendige Demokratie, die sich nicht von einem Konsensdenken speisen sollte?
Absolut. Alternativlosigkeit lähmt. Deshalb haben sich Unzufriedene und Abgehängte in die Arme der AfD geworfen. Die Erfolge dieser Partei haben die politische Debatte in Deutschland glücklicherweise neu belebt.

Als Sie selbst als Korrespondent nach Berlin kamen; was war damals Ihr erster Eindruck von der politischen Kultur in der Hauptstadt?
Es war journalistisch gesehen innenpolitisch eine eher langweilige Phase. Die Grosse Koalition regierte ruhig ihren Koalitionsvertrag ab und Merkels Zustimmungswerte waren so hoch wie bei keinem anderen Kanzler zuvor. All das hat sich 2015 mit der Flüchtlingskrise schlagartig verändert.

Welches Erlebnis mit Deutschen hat Sie als Schweizer besonders beeindruckt?
Das Treffen mit dem ehemaligen Aussenminister Hans-Dietrich Genscher bei ihm zuhause in Bonn kurz vor seinem Tod. Er hat mir über die Verhandlungen zur Deutschen Einheit mit Gorbatschow, Mitterrand und Thatcher erzählt, wie sehr alles an einem seidenen Faden hing. Er erzählte über seine und Helmut Kohls Beweggründe, Deutschland wieder zu vereinen. Mich beeindruckte seine tiefgründige Menschlichkeit.

Wie erklären Sie sich das fast schon traditionell ambivalente Verhältnis der Schweizer zu Deutschland?
Es ist wohl immer noch ein Reflex der Geschichte, den es auch in den anderen Ländern Europas gibt. Und gleichzeitig  ist das Verhältnis eines kleinen Bruders zum grösseren Bruder wohl immer ein ambivalentes.

Ihre Prognose zur Bundestagswahl: Hat Martin Schulz überhaupt noch eine Chance, Bundeskanzler zu werden?
Im Moment würde ich ganz klar sagen: Nein. Aber wenn ich mir die sprunghaften Veränderungen der Zustimmungs- und Unfragewerte innerhalb der letzten sechs Monate anschaue, will ich mich zum Ausgang der Wahl im September lieber noch nicht defintiv festlegen.

SRF-Korrespondent Adrian Arnold.

Gut zu wissen: Die Deutschen und die Zürcher

Derzeit leben in der Stadt Zürich 33 780 Deutsche (Stand März 2017). Damit sind sie die grösste Ausländergruppe in der Stadt, gefolgt von den Italienern. Ihre Zahl wuchs seit den 90er-Jahren kontinuierlich. Zum Vergleich: Vor 20 Jahren verzeichnete die Stadt Zürich noch 9800 Deutsche. Vor hundert Jahren, 1917, lebten mit 33 880 ungefähr so viele deutsche Staatsbürger in der Stadt wie heute.

Die deutsche Gemeinde nahm im hiesigen gesellschaftlichen Leben seit jeher einen zentralen Platz ein, an dem sich gerne auch die Zürcher sonnten, immerhin steuerten deutsche Zuwanderer entscheidende politische, wissenschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Impulse bei, wie etwa Revolutionär Georg Büchner, Komponist Richard Wagner, Physiker Albert Einstein, Medizin-Koryphäe Ferdinand Sauerbruch, Schriftsteller Thomas Mann, Sozialdemokrat Herman Greulich oder ETH-Architekt Gottfried Semper. Die Liste liesse sich beliebig verlängern.  

Unter den Scheffel stellte die deutsche Gemeinde ihr Selbstbewusstsein nicht. Immer wieder feierte sie in der Vergangenheit politische Ereignisse in grossem Massstab, wie etwa im Januar 1913, als die «Deutsche Kolonie» in der Tonhalle eine «Kaiserfeier» zum 54. Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. veranstaltete mit über 1200 Gästen. Die Büste des Monarchen wurde mit dem Schweizerwappen geschmückt. Am 4. Oktober 1942 feierten Tausende Deutsche im Hallenstadion ein monströs-bizarres Erntedankfest mit Hakenkreuzfahnen, Blumen geschmückten Mädchen und Hitlergruss. Mit der deutschen «Stunde Null» 1945 war zur Schau getragener Patriotismus auch in Zürich nicht mehr am Platz.

Das Verhältnis der Zürcher zu ihren deutschen Mitbürgern war bereits vor hundert Jahren nicht immer ungetrübt gewesen. Zuletzt erreichte die antideutsche Stimmung 2011 einen von den Medien zur Hysterie hochgejazzten Höhepunkt. Reifen von deutschen Autos wurden in Zürich zerstochen. Als das «Tagblatt» im Mai 2011 eine «Deutsche Seite von Deutschen für Deutsche» einführte, löste das heftigste Reaktionen aus - bis hin zu Drohungen. Ein echauffierter Zürcher drohte etwa dem damaligen Chefredaktor Markus Hegglin unverhohlen, ihn abzupassen und ihm «mit einem Baseballschläger eins über den Schädel zu ziehen». Jan Strobel


«Das Deutschlandgespräch» mit Adrian Arnold und Jonas Lüscher. Heute Mittwoch, 14. Juni,  19.30 Uhr. Zentrum Karl der Grosse, Kirchgasse 14, 8001 Zürich. Weitere Informationen: www.karldergrosse.ch


Adrian Arnolds Buch «Deutschland - der ängstliche Riese. Merkel und die verunsicherte Republik» ist im Mai im Orell Füssli  Verlag erschienen.
ISBN: 978-3-280-05657-8

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